Mit 23 Jahren hat Marina (Ariane Labed) zwar einen Job als Chauffeurin für eine Firma vorzuweisen, aber sonst keine wichtigen Lebenserfahrungen, zumindest sieht sie das so. Ganz besonders im sexuellen Bereich beschränken sich ihre Kenntnisse einzig auf die zahlreichen Tierdokumentationen des Briten Sir David Attenborough, die sie zusammen mit ihrem Vater (Vangelis Mourikis) immer wieder schaut. Damit sich dies ändert, klärt ihre beste Freundin Bella (Evangelia Randou) sie über Sex, Zungenküsse und Petting auf, auch wenn Marina nach wie vor wenig Gefallen an körperlicher Zuneigung findet. Erst als ein Fremder (Yorgos Lanthimos) in die Stadt kommt und Marina diesen herumfahren muss, erfährt sie, was es heißt jemandem körperlich nahezukommen. Während sie auf diesem Gebiet Erfahrungen sammelt, verschlechtert sich der Gesundheitszustand ihres Vaters.
Mit anderen leben
Die neue Welle des griechischen Filmes, die man vor allem mit Namen wie Yorgos Lanthimos (The Favourite – Intrigen und Irrsinn) in Verbindung bringt, der in Attenberg in einer Nebenrolle zu sehen ist, ist eine Bewegung, welche unter schwierigen Bedingungen entstand. Auch wenn die Aufmerksamkeit des internationalen Publikums sowie der Kritiker auf ihren männlichen Kollegen richtet, ist Athina Tachel Tsangaris Beitrag zum griechischen Film mindestens genauso wichtig, schlagfertig und ätzend in der Botschaft, die vermittelt wird. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass ihre Filme, wie Tsangari selbst in Interviews betont, ähnlich wie die ihrer Kollegen, keinerlei Förderung vom griechischen Staat erhalten. Zwar würde eine Finanzspritze die Arbeit erleichtern, aber so gibt es auch keinerlei Kontrolle über die Werke, was dem neuen griechischen Kino einen bisweilen sehr bitteren Ton gibt.
Auch wenn es sich anbietet, gibt es in Tsangaris Werk keine explizite Nennung der griechischen Misere, des Staatsbankrotts oder der Unzufriedenheit des Volkes. Dies ist allerdings überhaupt nicht erforderlich, sprechen die Bilder sowie die Figuren in Attenberg doch für sich und können dadurch umso mehr einen Blick eröffnen auf ein Szenario der Einöde und einer nicht näher erläuterten Sehnsucht. Wie in den Filmen ihres Kollegen Lanthimos ist es nicht mehr nur eine Bestandsaufnahme der Welt der Charaktere, sondern vielmehr die fast schon anthropologische Frage, wie man mit anderen leben kann, wie man lieben, fühlen und kommunizieren kann.
Hierfür benutzt Tsangari einen cleveren Trick, der sich von den eingangs erwähnten Dokumentation herleitet. Die falsche Aussprache des Namens Attenborough wird zu einem Witz zwischen ihr und Bella, eine von vielen Parodien und Albernheiten, die sich zu den Erläuterungen über Sexualität gesellen. Es wird zu einer eigenen Kreation, bei der das Vorgehen der Regie sowie der Hauptfigur analytisch, beobachtend und studierend bleibt, ohne aber den tatsächlichen Sinn zu erfassen. Marinas Rückfalle in dieses Verhalten sind nichts weniger als Rückhalte, Sicherstellungen nicht das Falsche zu tun in einer Welt, die für sie neu ist, an die es sich heranzutasten gilt.
„Ohne Freude und voller Langeweile“
Diese Tendenz zum Spiel und zum Experiment durchzieht Attenberg und das Handeln der Figuren. Ariane Labed zeigt eine beeindruckende Leistung als eine Frau, die sich langsam aber sicher aus ihrer Komfortzone bewegt, aber Angst vor den Verletzungen hat, welche ein solches Unterfangen mit sich bringen kann. So wird der erste Zungenkuss, den sie mit Bella gleich zu Anfang des Filmes probiert, gleichsam zu einem kindlichen Spiel, bei dem sich beide wie zwei Affen anbrüllen und wie zwei wilde Katzen bekriegen. Gerade hier fühlt sich Marina sicher, wenn nicht gar ihrer weitaus erfahreneren Freundin überlegen.
Jedoch definieren die Bilder des Filmes noch eine viel tiefer gehende Sehnsucht der Figuren, die sich über das Körperliche hinaus erstreckt. Die triste, industrielle Landschaft der Stadt rings um Marina und die anderen Figuren liefert wenig Projektionsfläche für jene Wünsche und Träume, jene Lust am Experiment und am Spiel. Die statischen, teils sehr langen Aufnahmen Thimios Bakatakis imitieren zum einen den dokumentarischen Stil Attenboroughs, aber man fragt sich bisweilen auch, was man an diesen kahlen Wänden und trostlosen Gebäuden sehen soll. Vor diesem Hintergrund kann man das Spiel der Figuren und die Erforschung des Körperlichen auch als eine Form der Rebellion in diesem Diktat der Ödnis sehen.
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