Die Blume von heute soll widerstandsfähig sein und darf dafür auch weniger duften – so der allgemeine Trend. Für Alice (Emily Beecham) ist das jedoch der falsche Weg. Sie will lieber eine Blume züchten, die viel Aufmerksamkeit erfordert und dafür mit einem Duft belohnt, der glücklich macht. Zusammen mit Chris (Ben Whishaw) und anderen Kollegen gelingt ihr dieses Kunststück dann auch, ihre Kreation wird bei der nächsten Blumenmesse einschlagen wie eine Bombe! Alice lässt es sich zudem nicht nehmen, ein Exemplar mit nach Hause zu nehmen und ihrem Sohn Joe (Kit Connor) zu schenken. Das ist zwar gegen die Regeln, da die entsprechenden Tests nicht abgeschlossen sind. Doch das stört niemanden. Bis auf die wunderliche Kollegin Bella (Kerry Fox), die ganz eigene Theorien zu der neuen Blume pflegt …
Das Horrorgenre kennt keine wirklichen Einschränkungen, wenn es darum geht, Monster auf die Leinwand zu holen. Die können der Tierwelt entnommen sein oder der Fantasie, aus dem Weltall kommen oder jenseitigen Reichen. Alternativ ist auch der Mensch immer wieder für einen Schrecken gut, Serienmörder sind schließlich ebenfalls eine eher unangenehme Begegnung. Eine andere Lebensform bleibt hingegen meist im Hintergrund: Pflanzen. Aus gutem Grund natürlich. Wie soll ein Wesen dir gefährlich werden, das sich gar nicht bewegen kann? Das dir nicht auflauern, dich verfolgen kann? Beispiele mit Pflanzenhorror gibt es zwar, etwa der dämonische Wald in Tanz der Teufel oder die fleischfressende Pflanze in Little Shop of Horrors. Aber sie bleiben Exoten in einer Armee von Bestien.
Ein unmerklicher Schrecken
Nun bekommt dieser tödliche Garten Zuwachs in Form einer ganz besonders betörenden Blume. Wobei das Label Horror bei Little Joe – Glück ist ein Geschäft nur zum Teil passt. Die österreichische Regisseurin und Co-Autorin Jessica Hausner (Amour Fou) bedient sich einerseits kräftig an den üblichen Genrezutaten. Immer geschieht da etwas im Hintergrund, im Augenwinkel, das niemand sieht. Bis auf eine, Bella, die hier die beliebte Funktion der verrückten Alten hat, die niemand für voll nimmt. Dass Hausner ihr eine Vorgeschichte mit psychischer Erkrankung hinzudichtet, macht es den Kollegen natürlich noch einfacher, sie zu ignorieren.
Während der eigentliche Ablauf der Geschichte streng nach Vorschrift läuft und der Film das Publikum auch brav auf dem Laufenden hält, gibt es unterwegs doch immer wieder eigenartige Störfeuer. Sehr offensiv ist beispielsweise der Umgang mit der Geräuschkulisse. Da ertönen fremdartige elektronische Klänge, nicht zu identifizierende Effekte. Oft meint man auch, einen historischen Film aus Fernost zu hören – was in einem starken Kontrast zu den Bildern steht, die sehr angeordnet, sehr symmetrisch, sehr steril sind. So als hätte jemand versehentlich die falsche Tonspur eingelegt.
Seid ihr noch normal?
Aber auch die Figuren sind immer irgendwie verkehrt. Das sind sie teilweise von Anfang an, Alice ist zum Beispiel immer etwas zu besessen und zu distanziert. Das macht die allmählichen Veränderungen nur schwer greifbar. Was ist hier normale Dysfunktion, was ist neu hinzugekommene Eigenschaft? Gibt es überhaupt eine Veränderung? Oder ist das nicht doch alles eingebildet? Little Joe, das bei den Filmfestspielen von Cannes 2019 Weltpremiere hatte, gibt zwar deutliche Anzeichen, dass die Blumen hinter allem stecken. Aber so richtig sicher kann man sich hier nie sein, dafür wird das zu wenig konkret.
Das wird nicht jedem gefallen. Wer mit der Erwartung Little Joe ansieht, einen „echten“ Horrorfilm zu bekommen, der sieht sich getäuscht. In den gesamten 105 Minuten passiert so gut wie gar nichts, keine bizarren Todesfälle, keine blutigen Zwischenfälle. Selbst die heftigsten Situationen gehen entweder gut aus oder finden abseits der Kameras statt. Das klingt langweilig, wird es für manche auch sein. Und doch hat dieser seltsame Hybrid aus Drama, Horror und Science-Fiction eine ganz eigene und eigenartige Atmosphäre, mischt surreale Elemente hinein, die bis ins Komische gehen. Der Film hat auch Themen, so ganz nebenbei, die über das Genre hinausgehen, beispielsweise die Frage nach dem wahren Glück und natürlich zur Ethik der Genmanipulation. Wer sich auf diese ruhige, teils betörend schöne Sonderbarkeit einlassen kann, der droht selbst dem Zauber dieser Blume zu erliegen und dabei Überlegungen zu gut oder schlecht ganz zu vergessen.
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