Der Osten der Ukraine im Jahr 2025: Der Krieg mit Russland mag ein Ende gefunden haben, hat das Land jedoch in einem desolaten Zustand zurückgelassen. Viel ist zerstört worden, das ganze Gebiet ist mit Minen übersät, auch das Wasser ist vergiftet. Inmitten der Ruinen versucht der traumatisierte Sergiy (Andriy Rymaruk) ein neues Leben zu beginnen. Doch die Bilder der Vergangenheit verfolgen ihn, zumal auch der Tod ein ständiger Begleiter ist. Als er auch noch seine Arbeit verliert, begegnet er der Rettungshelferin Katya (Liudmyla Bileka), die auf einer besonderen Mission unterwegs ist: Zusammen mit ihr und anderen Freiwilligen reist er durchs Land, um Leichen auszugraben und zu identifizieren, die in Folge des Kriegs überall verteilt sind …
2350 Jahre ist es mittlerweile her, dass der griechische Philosoph Platon in seinen Schriften das erste Mal Atlantis erwähnte, ein mächtiges Inselreich, das in nur einem Tag und einer Nacht unterging. Bis heute hält sich die Legende um eine fortgeschrittene Zivilisation, die von den Fluten verschlungen wurde und deren Reste irgendwo auf dem Grund des Ozeans verborgen sein sollen. Viele Bücher und Filme nahmen dieses mysteriöse Eiland zum Thema, das von Anfang an Inhalt von Diskussionen war: Handelte es sich um eine Erfindung Platons oder basierte seine Geschichte auf einem wahren Vorfall? So oder so, einen Film danach zu benennen, das erweckt gewisse Erwartungen. Erwartungen, die Valentyn Vasyanovych aber gar nicht zu erfüllen gedenkt.
Die Suche nach Menschlichkeit
Von Wasser ist in Atlantis nichts zu sehen, dafür gibt es viel Geröll. Der Film spielt auch nicht in einer lang zurück liegenden Vergangenheit, sondern ist in der nahen Zukunft angelegt. Und von einem mächtigen Volk kann keine Rede sein, vielmehr scheinen die letzten Tage der Ukraine angebrochen zu sein. Und doch, der Titel ist auf eine seltsame Weise passend. Schon mit den ersten Einstellungen hat das Drama immer eine leicht fantastische Note, die bis ins Surreale reicht, etwa wenn farbige Menschenumrisse einer Wärmekamera in der Dunkelheit tanzen, wie Geister, an die man sich nur schemenhaft erinnert. Und natürlich gibt es das Thema des Verlustes, wenn auf Schritt und Tritt Zerstörung und der Tod warten.
Das hört sich nach einem schrecklich deprimierenden Film an. Teilweise ist Atlantis das sicher auch: An manchen Stellen fühlt man sich ebenso leer und verwüstet wie die Orte, durch die Sergiy läuft. Eine ausgebombte Wohnung beispielsweise, von der man nicht sagen kann, wann sie aus dem Leben verschwunden ist. Und wenn sich die Figuren minutenlang über eine gefundene Leiche unterhalten, sie bis in Kleinste beschreiben, dabei aber kein Stück Menschlichkeit entdecken, Körper und Kleidung kein Individuum werden, dann nimmt einen das selbst nach und nach und nach auseinander, bis man gar nicht mehr weiß, ob man noch am Leben ist.
Gefangen in der Ruine
Und doch ist Atlantis von einer ganz eigenen Schönheit, nicht zuletzt weil Vasyanovych, der Regie führte, das Drehbuch schrieb und für die Kamera verantwortlich war, wunderbare Bilder für seine Geschichte fand. Er arbeitet viel mit der Totalen, hält minutenlang aufs Geschehen, ohne jeglichen Schnitt, selbst wenn nichts geschehen sollte. Das erinnert an die nordeuropäischen Kollegen Echo und Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach, auch wenn der Tableau-Charakter nicht durchgängig beibehalten wird. Zwischendurch dürfen wir auch an Bord eines Jeeps durch das Nichts fahren, auf der Suche nach dem Tod, auf der Suche aber auch nach Leben.
Atlantis, das in der Horizons-Sektion der Filmfestspiele von Venedig 2019 Premiere hatte und dort als bester Film ausgezeichnet wurde, handelt von den Traumata und der Leere, die der Krieg zurückgelassen hat. Doch das dystopische Drama ist nicht völlig frei von Hoffnung und Wärme. Ausgerechnet die Begegnung mit Katya, die vergessenen Leichen auf der Spur ist, hilft Sergiy dabei, wieder einen Weg zurück in diese Welt zu finden. Einen Sinn in ihr und seine eigenen Existenz zu finden. Wie lange es dauert, bis alle zur Normalität übergehen können, die Leichen gefunden sind, Minen aus dem Weg geräumt und das Wasser entgiftet, das bleibt hier natürlich offen. Der Film gibt kaum Antworten, wenig Kontexte, ist ganz allgemein sparsam mit Worten. Es ist nicht einmal sicher, ob überhaupt noch etwas aus den Ruinen entstehen kann oder ob die Ukraine nicht so wie Atlantis auch eine untergegangene Erinnerung darstellt, nach der man sich sehnen kann, die aber unerreichbar bleibt. Und doch hat es einen Wert, auf diesen Straßen unterwegs zu sein und zu suchen, sich der Vergangenheit zu stellen. Denn vielleicht ist dort, zwischen geschlossenen Fabriken, zerstörten Wohnungen und anonymen Körpern doch auch ein Weg in die Zukunft verborgen, man muss nur tief genug graben.
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