Die ganze Stadt ist in Aufruhr: Ein 12-jähriger Junge ist verschwunden, am helllichten Tag, keiner hat einen Schimmer, was mit ihm passiert sein könnte. Während der leitende Ermittler Greg Harper (Jon Tenney) nach Spuren sucht, geht sein Familienleben gerade in die Brüche, nachdem seine Frau Jackie (Helen Hunt) ihn betrogen hat. Vor allem der gemeinsame Sohn Connor (Judah Lewis) trägt schwer an der Situation und nutzt jede Gelegenheit, um seiner Mutter das Leben zur Hölle zu machen. Jackie versucht zwar alles, um die Situation wieder in Ordnung zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Zumal sie auch regelmäßig abgelenkt wird, denn immer wieder geschehen eigenartige Dinge bei ihnen zu Hause. Versucht Connor ihr nur Angst zu machen? Oder geht da etwas anderes vor?
Irgendwie sind es doch immer die kleinen amerikanischen Städte, in denen das Böse umgeht. Zumindest in Filmen wird immer wieder vorgemacht, wie hinter einer heilen Fassade ziemlich viel im Argen liegt. I See You macht daraus auch keinen Hehl. In den ersten Minuten sehen wir, wie der besagte 12-Jährige verschwindet und wie bei den Harpers die Fetzen fliegen. Das macht dann nicht unbedingt Lust darauf, die Koffer zu packen und dorthin zu ziehen. Erst einmal ein bisschen Harmonie vortäuschen? Daran hat Regisseur Adam Randall (Level up) kein Interesse, er konfrontiert lieber gleich mit den Tatsachen. Oder das, was man für die Tatsachen hält.
Viele Spuren führen … wohin eigentlich?
Denn eigentlich hält sich I See You etwas bedeckt, was das Ganze denn nun eigentlich sein soll. Die Ermittlungen zum Fall des verschwundenen Jungen laufen eine Weile etwas nebenher, der Film ähnelt mehr einem Familiendrama. Bis die eigenartigen Vorkommnisse im Haus hinzukommen. Für Genrefreunde sind die nicht ganz so eigenartig. Eigentlich greift Devon Graye bei seinem Drehbuch auf die üblichen Elemente eines Haunted House Horrors zurück. Geräte, die sich ein- und ausschalten, Gegenstände, die nicht mehr dort sind, wo sie sein sollten, Schatten, die sich im Hintergrund bewegen, wispernde Stimmen, die man nicht genau zuordnen kann.
Das ist für sich genommen eigentlich gar nichts Besonderes. Und auch die Kombination von unheimlichen Ereignissen und Familienzerwürfnissen haben wir in den letzten Jahren des Öfteren gesehen, Something Else und The Lodge nur als Beispiel genannt. Randall hat dies zum einen aber effektiv umgesetzt, ohne es dem Publikum um die Ohren hauen zu wollen. Wenn hier etwas keinen Sinn ergibt, dann ist das eine kleine Irritation, kein durch dramatische Musik angekündigter Weltuntergang. Die Figuren merken, dass etwas nicht stimmt, sind aber zu sehr mit ihrem kaputten Leben beschäftigt, als dass sie der Geschichte große Aufmerksamkeit widmen könnten. Zumal ja nicht klar ist, inwiefern beides zusammenhängt.
Unwissen im Vorteil
Die konkreten Antworten gibt es jedoch erst relativ spät. Teile des Puzzles sollten erfahrene Zuschauer und Zuschauerinnen selbst zusammensetzen können, auch weil es keine wirklichen Alternativen gibt. Anderes kommt hingegen wirklich aus dem Nichts, weshalb keine Review ohne die Aufforderung auskommt, möglichst wenig im Vorfeld zu wissen. Tatsächlich macht I See You auch mehr Spaß, wenn man ohne große Kenntnisse ins Kino geht und sich überraschen lassen kann. Wobei nicht jede Wendung gleich gut sitzt. Gerade zum Ende hin macht man es sich hier dann doch ein bisschen einfach und setzt voraus, dass das Publikum nicht weiter über alles nachdenkt oder sich an argen Zufälligkeiten stört.
Ansonsten gibt es relativ wenig, was man dem Thriller, der auf dem South by Southwest Festival 2019 Premiere feierte, aussetzen könnte. Die Art und Weise, wie mit Erwartungen gespielt wird, ist clever, viele unbewusste Annahmen werden erst später aufgelöst. Und auch die darstellerischen Leistungen sind auf einem guten Niveau, selbst wenn die kaum wiederzuerkennende Oscar-Preisträgerin Helen Hunt (Besser geht’s nicht) nicht ganz so viel zu tun bekommt. Aus dem zwischenmenschlichen Aspekt hätte man sicherlich noch mehr herausholen können. Spannend ist I See You aber auch so, das derzeit verdientermaßen von einem Genre-Festival zum nächsten weitergereicht wird.
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