So richtig glücklich sind Maria (Chiara Mastroianni) und Richard (Benjamin Biolay) ja schon länger nicht mehr. Das war am Anfang ihrer Ehe natürlich noch anders. Aber das liegt 20 Jahre zurück, der Alltag ist jetzt von Gewohnheiten und einem leichten Desinteresse geprägt. Und natürlich den vielen Affären, die Maria so hat. Als eine davon auffliegt, wird es Zeit etwas zu ändern. Und so zieht sie erst einmal in das Zimmer 212 des gegenüberliegenden Hotels. Von dort aus hat sie nicht nur den Überblick darüber, was bei ihrem Mann so vor sich geht. Sie hat auch Zeit, um ein bisschen nachzudenken und alles Revue passieren zu lassen – inklusive der Anfangszeit mit dem jungen Richard (Vincent Lacoste).
Christophe Honoré hat ein Talent dafür, selbst die dunkelsten Themen irgendwie verspielt und unbekümmert darzustellen. In Sorry Angel erzählt er von der Schwulenszene im Paris der 1990er, von dem allgegenwärtigen Tod, der sich hinter dem Akronym AIDS versteckt, von einer Liebe, die keine Zukunft hat, weil sie zu spät kam. Doch trotz des düsteren Stoffes war da viel Humor, viel Lebendigkeit, wenn zwei schwule Männer, der eine deutlich älter als der andere, sich eines Abends zufällig begegnen und einen Teil des Wegs miteinander gehen. Zwei Männer, die sich umkreisen, miteinander spielen, sich auf charmante Weise annähern und doch nie ganz zusammenfinden.
Was mach ich mit meinem Leben?
Der jüngere wurde von Vincent Lacoste (Mein Leben mit Amanda) verkörpert, der auch in Honorés neuestem Werk Zimmer 212 – In einer magischen Nacht eine größere Rolle hat. Erneut geht es auch um ein Paar, um Zweisamkeit, um das Ringen nach Glück. Wobei hier nicht die Zukunft im Mittelpunkt steht. Vielmehr ist es die Vergangenheit, über die alle nachdenken, nachgrübeln, sich fragen: Habe ich mich richtig entscheiden? Was wäre gewesen, wenn ich eine andere Entscheidung getroffen hätte? Wie würde mein Leben heute aussehen? Das sind Fragen, die den meisten irgendwann durch den Kopf schwirren werden. Es braucht dabei noch nicht einmal ein einschneidendes Ereignis wie eine enthüllte Untreue oder auch eine Midlife-Crisis. Manchmal reicht ein kurzer Moment der Ruhe, um ein wenig innezuhalten.
Wobei Ruhe in Zimmer 212 – In einer magischen Nacht eher ein Ausnahmezustand ist. Tatsächlich geht es in dem Film überaus turbulent zu. Man sollte zwar meinen, dass die Geschichte eines Paares, das nur wenige Minuten im selben Zimmer verbringt, eine solitäre Angelegenheit wird. Stattdessen werden die zwei jedoch von den Geistern ihrer Vergangenheit heimgesucht. Der Clou dabei: Honoré greift an diesen Stellen nicht nur auf Flashbacks zurück, welche Erinnerungen veranschaulichen sollen. Nein, die besagten Geister kommen auch schon mal persönlich in dem Hotelzimmer 212 vorbei, welches dem Film seinen französischen Originaltitel gibt. Und sind die Geister erst einmal angekommen, wird man sie so schnell nicht wieder los, interagieren sie doch kräftig mit den gegenwärtigen Figuren.
Die surreale Komik der Gedankenspiele
Das fängt skurril an, wird mit der Zeit immer absurder. Geradezu surreal mutet es an, wenn irgendwann die Grenzen völlig fallen, jeder tun und sagen kann, was er will, egal ob nun aus der Vergangenheit oder der Gegenwart. Das ist schon etwas eigenwillig, gar gewöhnungsbedürftig: Zimmer 212 – In einer magischen Nachtnimmt sich eines ganz alltäglichen Themas an und macht daraus etwas ziemlich Verschrobenes. Das ist ziemlich komisch, weil Honoré immer neue Wege findet, um diese Situationen noch verrückter zu machen. Wer selbst einen Humor pflegt, der Eigenart und Leichtigkeit vereint, auf den warten hier viele erheiternde Momente, vorhersehbar ist dabei nur wenig – selbst wenn man die Grenzenlosigkeit bereits akzeptiert hat.
Doch Zimmer 212 – In einer magischen Nacht, das während der Filmfestspiele von Cannes 2019 Weltpremiere hatte, ist mehr als nur ein kunterbunter, manchmal etwas alberner Spaß. Denn hinter der auch sehr schön bebilderten Kulisse verbirgt sich ein durchaus nachdenklicher, intelligenter Beitrag über Entscheidungen und wie diese unser Leben formen. Wenn Richard beispielsweise darüber nachdenkt, ob er nicht doch mit einer anderen Frau glücklicher geworden wäre, dann wird gleichzeitig klar: Er wäre dann aber auch nicht der Richard, der er heute ist. Immer wieder wechselt der Film auf eine Art Meta-Ebene, auf der so ziemlich alles und jeder mal hinterfragt werden kann. Das sorgt einerseits für Klarheit, gleichzeitig wieder nicht. Denn am Ende bleibt doch die Ambivalenz, bleiben Träume, bleiben Zweifel. Komik und Bedauern gehen Hand in Hand, Hoffnung und Ernüchterung. Was bleibt: Am nächsten Morgen, wenn diese magische Nacht ihr Ende gefunden hat, wieder aufstehen und schauen, ob man sich noch ein bisschen von dem Zauber bewahren kann, der in dem Hotelzimmer 212 alles auf den Kopf stellte, uns zum Lachen brachte, aber doch auch wieder neuen Schwung und Mut.
OT: „Chambre 212“
Land: Belgien, Frankreich, Luxemburg
Jahr: 2019
Regie: Christophe Honoré
Drehbuch: Christophe Honoré
Kamera: Rémy Chevrin
Besetzung: Chiara Mastroianni, Benjamin Biolay, Vincent Lacoste, Kolia Abiteboul, Camille Cottin, Carole Bouquet, Stéphane Roger
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)