Ihre Haare trägt sie kurz, statt in Kleidern läuft sie lieber in Hosen herum: Auf den ersten Blick geht die zehnjährige Laure (Zoé Heran) als Junge durch. Und auch auf den zweiten. Zumindest die Kinder der Stadtrandsiedlung, in die Laure und ihre Familie gezogen sind, haben dann auch keine Ahnung, dass es sich bei dem Neuankömmling um ein Mädchen handelt – auch weil dieser sich als Michaël ausgibt. Laure tut daraufhin auch alles, um diese Illusion aufrechtzuerhalten, spielt Fußball, prügelt sich mit den anderen. Kompliziert wird es jedoch, als die gleichaltrige Lisa (Jeanne Disson) Gefallen an Michaël findet …
Jungen spielen Fußball, Mädchen mit Puppen. Jungen haben kurze Haare und Hosen, Mädchen lange Haare und Kleider. Jungen mögen die Farbe Blau, bei Mädchen muss alles pink sein. Das sind nur drei der Klischees, die uns von früh an begleiten, wenn wir irgendwie unterscheiden müssen, was ein Junge, was ein Mädchen ist. Denn ein Geschlecht macht sich nicht allein am Geschlechtsteil fest. Ein Geschlecht ist gleichzeitig eine Rolle, eine Funktion, die jeder zu erfüllen hat, wenn er ein Teil dieser Gesellschaft sein will. Sonst funktioniert das nicht, so die Überzeugung mancher.
Es gibt mehr als zwei Wege
Inzwischen hat sich da schon ein bisschen was getan, langsam reift die Überzeugung, dass diese Schubladen vielleicht doch nicht so ganz reichen. Dass sie sogar schädlich sein können für Menschen, die sich nicht darin wiederfinden. So gibt es in Deutschland beispielsweise seit Ende letzten Jahres die Möglichkeit, im Personenstandsregister statt „männlich“ oder „weiblich“ ein „divers“ einzutragen, entweder aus einer grundsätzlichen Ablehnung der binären Geschlechtereinteilung oder auch weil sich die Betroffenen schlicht zu keinem der beiden Möglichkeiten zugehörig fühlen. Sie sich weder als Mann noch als Frau empfinden.
Ob dies nun auch für Laure gilt, die ein geheimes Leben als Michaël beginnt, ist nicht ganz eindeutig. Warum sie sich als Junge ausgibt, das lässt Regisseurin und Drehbuchautorin Céline Sciamma (Porträt einer jungen Frau in Flammen) offen. Grundsätzlich ist Tomboy kein Film, der alles genau erklären will. Das Drama ist allgemein eher wortkarg, begnügt sich damit, die Kinder beim Herumtoben zu beobachten, zeigt sie beim Spielen, bei sonstigen Freizeitaktivitäten, mit denen sie den Sommer füllen, bevor dann irgendwann mit der Schule wieder der Ernst des Lebens anfängt. Und für Laure die Stunde der Wahrheit.
Spielerische Selbsterfahrung
Die kleinen Sommerabenteuer von Laure und ihrer neuen Clique haben deshalb auch die Art zeitlose Note, wie Sommerferien sie an sich haben. Eine Zeit, die außerhalb der Regeln und Zwänge existiert. Dass Laure genau dieses schwebenden Zwischenstatus nutzt, um sich ein bisschen auszuprobieren, ist daher irgendwie naheliegend. Tomboy wirkt dann auch mehr wie ein spielerisches Experiment, um Grenzen auszutesten, als eine wirkliche Aussage zu Geschlechteridentitäten. Möglich, dass Laure ihre jungenhafte Art beibehalten wird. Vielleicht will sie sogar wirklich ein Junge sein. Oder es ist eben doch nur eine Phase, so wie man ein neues Hobby anfängt, seinen Essensgeschmack ändert oder einen alternativen Look ausprobiert. Wenn es nichts taugt, kann man es ja immer noch so machen wie bisher.
Solche Banalitäten mit einer derart fundamentalen Eigenschaft wie dem Geschlecht gleichzusetzen, klingt vielleicht etwas komisch. Und doch zeichnet sich Tomboy gerade dadurch aus, wie natürlich und beiläufig feste Geschlechterbilder hinterfragt werden. Ist Laure weniger Mädchen, weil sie Fußball spielt? Ist sie mehr Junge, weil sie Hosen trägt? Und ist es überhaupt wichtig, welchem Geschlecht sie angehört? Der Film zeigt auf, welchem Druck man bereits als junger Mensch ausgesetzt ist, ohne das immer genau zu verstehen oder überhaupt zu bemerken. Sciammas Film ist dabei jedoch keine explizite Verdammung der Klischees und Erwartungen, auch wenn die obligatorisch negativen Reaktionen der anderen das vermuten lassen. Vielmehr überlässt es die französische Filmemacherin den Menschen selbst, einen für sich passenden Weg zu finden. Der kann der Norm entsprechen, kann es aber auch nicht, am Ende gibt es kein wirkliches richtig oder falsch, das Leben ist hier eine Entdeckungsreise, bei der es jedem einzelnen offen steht, für welche Richtung man sich entscheidet.
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