Großstädte, das hört sich toll an, nach so vielen Möglichkeiten und Angeboten und Selbstentfaltung! Aber diese Faszination macht oft schnell der Ernüchterung Platz. Denn wo die Auswahl groß ist, da wird sie schnell beliebig. Man weiß gar nicht mehr, wofür man sich entscheiden soll, will es vielleicht auch gar nicht. Das gilt nicht nur für Freizeitaktivitäten, die einen mit ihrer Gesamtzahl überfordern können. Es gilt vor allem auch für das Angebot in Sachen Liebe. Und so ist es dann kein Wunder, dass gerade Großstädter über Einsamkeit klagen, inmitten der vielen Menschen der Zusammenhalt verlorengeht. Die französische Tragikomödie Einsam zweisam zeigt das anonyme Nebeneinander sehr schön im fiktiven Bereich, nun kommt aus Deutschland noch die passende Doku dazu.
Wobei der Zugang in Berlin 4 Lovers natürlich ein anderer ist. Anstatt das Geschehen aus der dritten Person zu zeigen und damit deutlich zu machen, wie wenig wir von unserem Umfeld mitbekommen, erfolgt der Erkenntnisgewinn hier mittels Interviews. Das bedeutet, dass sich die diversen Interviewpartner*innen gezielt mit ihren Erfahrungen auseinandersetzen müssen, sich selbst hinterfragen. Wie war das für sie, in Berlin nach Liebe zu suchen? Hat das Ganze geklappt, wie sie es sich erhofft hatten? Aber auch: Was hat sich seit ihrer Ankunft getan? Das ist zwangsläufig mit Rückblicken verbunden, fast immer ist von der Vergangenheit die Rede, selten nur von der Gegenwart.
Online auf der Suche nach Glück
Ein großer Fokus liegt dabei auf den Erfahrungen, welche die Interviewten mit Tinder oder anderen Online-Dating-Plattformen gesammelt haben. Das haben sie alle hier, verständlicherweise. Wer in einer neuen Stadt unterwegs und niemanden kennt, für den sind solche virtuellen Treffpunkte ein möglicher Beginn. Die einzelnen Erfahrungen sind dabei zwangsläufig sehr unterschiedlicher Natur, trotz der Gemeinsamkeiten. Zwei der zehn Berliner und Berlinerinnen wurden auf diese Weise ein Paar und erwarten nun ihr erstes Kind. Andere waren weniger erfolgreich, sind noch immer Single oder sind es wieder, haben durch die Drehtür Dating zwar viele Leute kennengelernt, aber keiner, der stehengeblieben wäre.
Das ist nicht wirklich überraschend, man müsste schon sehr verblendet sein, um nicht zu erkennen, wie Online-Bekanntschaften das Wegwerfverhalten der Gesellschaft weiter verstärken. Wenn hier gleiche mehrere zu dieser Erkenntnis kommen, dann ist das also lediglich eine Bestätigung dessen, was wir schon alle wissen oder es uns zumindest denken können. Daran ändern wird sich so schnell auch nichts, denn selbst die reflektierten Gesprächspartner*innen haben deshalb ihr eigenes Verhalten nicht geändert. Nur weil man weiß, dass man anderen Menschen mit diesem Medium nicht gerecht wird, weil sich alles auf einer Oberfläche abspielt, ändert das noch nichts an der Situation. Da heißt es entweder mitspielen oder aufhören.
Das versteckte Individuum
All das läuft ziemlich genau so ab, wie man es von einem Dokumentarfilm zum Thema Online-Dating in Berlin erwartet. Ein bisschen krankt Berlin 4 Lovers zudem daran, dass die Auswahl der Interviewpartner*innen nicht sehr abwechslungsreich ist. Sie alle sind jung, entstammen einer kreativen Ecke. Auch bei Ethnien und sexueller Orientierung bewegt man sich in einem sehr engen Rahmen. Ein tatsächlicher Querschnitt sieht da anders aus. Und doch hat der Beitrag vom achtung berlin Festival 2019 seine Momente, da die Interviewten einiges zu erzählen haben. Da sind echte Abgründe dabei, etwa eine Vergewaltigungserfahrung. An einer anderen Stelle sinniert jemand über sein Ghosting-Verhalten, sprich dem plötzlichen Kontaktabbruch ohne Möglichkeit der Klärung. Sich derart gegenüber dem Publikum zu öffnen, ist natürlich ungewöhnlich, umso mehr im Rahmen der oberflächlichen Online-Dates. Aber es ist doch spannend, wie aus den Bildern, die man bei Tinder vielleicht beiseitewischen würde, durch Regisseurin Leonie Loretta Scholl zu Menschen werden, die man tatsächlich wieder als solche wahrnimmt.
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