Fünfzehn Minuten. Für den einen mag das ein langer Zeitraum sein, für den anderen so gut wie nichts. Ein Mensch jedenfalls wird in seinen ersten fünfzehn Minuten nicht viel anstellen können, außer ein wenig herumzuschreien. Ein neugeborenes Rentier hingegen muss in dieser Zeit so gut wie alles lernen, was es zum Überleben benötigt. „Fünf Minuten um aufzustehen, fünf um zu gehen, fünf um zu rennen und zu schwimmen.“ Dies zumindest erzähle man Kindern in Lappland, lässt uns Anke Engelke wissen, die in der deutschen Version von Ailos Reise das Voiceover übernahm.
Regisseur Guillaume Maidatchevsky möchte Ailos Reise nicht als Naturdokumentation verstanden wissen, sondern als Abenteuerfilm. Ob das eine reine Marketingaussage ist, weiß wahrscheinlich nur er selbst. Vielleicht ist es auch tatsächlich seine innerste Überzeugung. Faktisch handelt es sich jedenfalls um eine Tier-/Naturdoku. Einzig der hinterher eingefügten Erzählung lässt sich die Fokussierung auf Kinder als Zielgruppe anmerken, welche die Genrezuordnung als Abenteuer-/Familienfilm dann so halbwegs glaubwürdig werden lässt.
Tiere sind auch nur Menschen
Während die Bilder nicht davor zurückschrecken, ein von Wölfen erlegtes Rentier zu zeigen (und auch der Kommentar beschönigt hier der Fairness halber erwähnt nichts), werden die verschiedenen Tiere à la Maleika fast durchgängig vermenschlicht. So wird etwa Ailos Mutter angeblich vor eine schwierige Entscheidung gestellt (als ob sie nun ernsthaft mithilfe einer Strichliste pro und kontra abwägen würde, statt instinktiv zu handeln) oder ein Hase kurzerhand als Ailos Schulkamerad deklariert. Die große Stärke von Ailos Reise jedenfalls sind die Bilder. Ob Cold Bloody Legacy oder Mountain, Schneelandschaften scheinen die geheime Superkraft zu besitzen, von einer Filmkamera nicht anders als überwältigend eingefangen werden zu können. Im Gegensatz zu den genannten Filmen besteht die Naturkulisse von Ailos Reise fast ausschließlich aus Schneelandschaften, welche vor allem gegen Ende immer spektakulärer werden. Mit einer reinen Dokumentation wäre Maidatchevsky deutlich besser gefahren.
Engelkes Kommentare sind hier und da informativ („fünfzehn Minuten“), nicht selten humorvoll (als Paradebeispiel sei die Einführung des Hermelins genannt), aber leider überwiegend überflüssig. Von ein bisschen Hintergrundwissen abgesehen fügt das Voiceover den Bildern kaum etwas hinzu. Die erste Hermelinszene ist schon witzig genug und kann gut für sich alleine stehen. Manchmal vergreift sich Engelke, sicher unverschuldet auf synchronregieliche Anweisung, gewissermaßen im Ton. Wenn es über die Rentiere, welche sich ja nun einmal im nördlichen Teil des Kontinents aufhalten, heißt, dass sie viel laufen und deshalb auch „Läufer des Nordens“ genannt werden, wird das in einer Weise vorgetragen, als wäre das die kreativste und tiefsinnigste Bezeichnung, die jemals von einem Menschen erfunden wurde.
Während dies, wie auch schon die erwähnte Anthropomorphisierung, durchaus darauf zurückgeführt werden kann, dass der Film sich hauptsächlich an Kinder richtet, unterläuft dem Skript an anderer Stelle ein grober Schnitzer. Polarfüchse, so lernen wir, behalten ihren Partner ein Leben lang. Bei Rentieren sei das anders, Engelke verspricht uns im vertrauenserweckenden Plauderton, dass wir später noch Genaueres über die Gründe hierfür erfahren werden. Dieses Versprechen wird leider nie eingelöst.
(Anzeige)