Für Natalia (Michela Cescon) geht ein absoluter Traum in Erfüllung: Sie bekommt ein Kind! Dass sie nicht weiß, wer der Vater ist, ist ihr egal, sie wird es auch so lieben. Problematischer ist da schon, dass es anscheinend ohne Schwerkraft geboren wurde. Auch auf Drängen ihrer Mutter Alina (Elena Cotta) beschließt sie daher, Oscar (Pietro Pescara) nicht aus dem Haus zu lassen, um ihn vor der Welt da draußen zu beschützen. Doch das ist gar nicht so einfach, denn schon bald hält es der Junge nicht mehr daheim aus und will endlich ein normales Leben führen. Als er daraufhin die vorlaute Agata (Jennifer Brokshi) trifft, ist das eine Begegnung, die ihn den Rest seines turbulenten Lebens verfolgen wird …
Zuletzt hat es eine auffällige Häufung an Filmen und Serien gegeben, in denen Kinder Superkräfte haben und damit ziemlich kämpfen müssen. In Invisible Sue – Plötzlich unsichtbar wird eine kaum beachtete Teenagerin unsichtbar, Raising Dion verleiht dem jungen Protagonisten telekinetische Kräfte, die er zuerst für Magie hält, in Freaks kann ein Mädchen sein menschliches Umfeld kontrollieren. Das hört sich alles ganz toll an, führt aber zu neuen Problemen, welche die jungen Helden und Heldinnen überwinden müssen. Zum Dank schaffen sie es aber alle zum Schluss, die bösen Gegenspieler zu besiegen und auf diese Weise ihre jeweiligen Familien zu retten.
Wann fängt mein Leben an?
Bei Der Mann ohne Gravitation ist das anders. Zwar wird Oscar immer wieder davon sprechen, Superkräfte zu haben, nicht zuletzt weil er ein großer Fan von Batman ist. Der Netflix-Film erzählt jedoch nicht die Geschichte eines Helden. Im Gegenteil: Der Junge ohne Schwerkraft hat in erster Linie unter seiner Besonderheit zu leiden, da sie ihm ein normales Leben erschwert, streckenweise auch völlig unmöglich macht. Zwar lernt seine Familie mit der Zeit, sich irgendwie mit der Situation zu arrangieren und dem Kind alles etwas angenehmer zu machen. Doch das ist alles eher behelfsmäßig. Das größte Problem bleibt: Was wenn andere Menschen davon etwas mitbekommen?
Das hört sich ein bisschen nach den X-Men-Filmen an, in denen Mutanten mit Diskriminierung und Selbstzweifeln zu kämpfen haben. Doch Der Mann ohne Gravitation geht da einen anderen Weg. Zunächst einmal beginnt die italienische Produktion als Komödie. Schon die erste Szene, wenn Baby Oscar langsam an die Decke schwebt und nur von der Nabelschnur zurückgehalten wird, regt ein wenig zum Schmunzeln an. Und es werden noch weitere Szenen folgen, beispielsweise wenn Oma Alina sich einmischt – was sie anfangs ständig tut. Und doch verzichtet Regisseur und Co-Autor Marco Bonfanti darauf, diese kuriose Eigenheit des Jungen für billige Gags verbraten zu wollen. Chaotische Slapstick-Momente, in denen ein Missgeschick nach dem andere geschieht? Die gibt es nicht.
Das traurige Schicksal eines Nicht-Helden
Später nehmen diese humoristischen Einlagen ohnehin ab, wenn sich Der Mann ohne Gravitation zunehmend in ein Drama verwandelt. Oscar, jetzt berührend gespielt von Elio Germano, ist noch immer hin und her gerissen, was er mit seinem Leben und seinen Fähigkeiten anfangen soll. Sollte er sich verstecken vor dem Rest der Welt oder seine Schwerelosigkeit öffentlich machen? Dabei hat er die Wahl zwischen einem selbstbestimmten, aber einsamen Leben und einem in der Öffentlichkeit, die in ihm eine Kuriosität sieht, die man früher in einen Zirkus gesteckt hätte und von der windige Leute profitieren wollen. Das könnte Geld und Ruhm bringen. Aber bringt es auch das Glück?
Der Mann ohne Gravitation ist dann auch deutlich nachdenklicher als vergleichbare Geschichten, verzichtet auf Action und Spektakel, gibt keine Erklärungen, ist insgesamt deutlich ambivalenter. Und trauriger. Bonfanti erzählt von einem Kampf um Würde und Selbstbestimmtheit, wenn das Schicksal nicht so mitspielt, von der Suche nach Trost und Identität. Das geht besonders später zu Herzen, wenn das Glück an den unerwarteten Orten wartet, der Film auch eine leicht magische Note erhält. Leider war Netflix wie kürzlich schon bei Seventeen wohl der Ansicht, dass leise, leicht skurrile Tragikomödien kein größeres Publikum ansprechen, und verzichtete daher auf eine Synchronisation. Wer sich nicht an Untertiteln stört oder mit der erneut minderwertigen englischen Vertonung leben kann, sollte dieser ganz anderen Heldengeschichte mal eine Chance geben. Verdient hätte sie es.
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