Das Leben von Ruth (Judith Hofmann) ist geprägt von vielen Widersprüchen. Einerseits ist sie streng gläubig, gehört mit ihrem Mann Hanspeter (Christian Kaiser) einer Freikirche-Gemeinde an. Gleichzeitig arbeitet sie aber als Wissenschaftlerin. Derzeit ist sie in ein geheimes Experiment involviert, in dem der Kopf eines Affen auf einen anderen transplantiert werden soll. Bislang konnte sie diese Balance ganz gut halten. Doch dann taucht Andreas (Thomas Schüpbach) auf. Mit dem war sie vor 20 Jahren liiert, bis er für Raubmord verurteilt wurde, obwohl er immer auf seiner Unschuld bestanden. Dass er nun wieder da sein soll, bringt die Welt von Ruth völlig durcheinander, die nicht mehr weiß, woran sie noch glauben soll …
Ein bisschen irreführend ist es ja schon, den Film Der Unschuldige zu nennen, weckt der Titel doch die Erwartung, dass sich die Handlung um den besagten Mann dreht. Doch der ist maximal Katalysator, löst etwas in Ruth aus. Dass sie die eigentliche Hauptfigur ist, das wird erst nach einer Weile klar, ebenso wer den mit dem Titel überhaupt gemeint ist. Regisseur und Drehbuchautor Simon Jaquemet, der hier nach dem gefeierten Chrieg seinen zweiten Spielfilm abliefert, lässt das Publikum längere Zeit um Dunklen tappen. Und selbst wenn dieses irgendwann meint verstanden zu haben, worum es in dem Film genau geht, bleiben noch genügend Irritationen und verwirrende Elemente.
Wo bin ich hier?
Dieses Gefühl der Verwirrung ist natürlich kein Zufallsprodukt. Von Anfang an geht Jaquemet sicher, dass Zuschauer und Zuschauerinnen sich ein wenig verloren in seinem Film fühlen. Wenn er Ruth beispielsweise anfangs zu einem Privatdetektiv schickt, der Andreas hinterherspüren soll, dann gibt es da kein Büro in einem Reihenhaus. Erst heißt es, sich durch ein unübersichtliches Labyrinth zu schlängeln, bis wir am Ziel angekommen sind. Und noch nicht einmal dann ist auf Anhieb klar, wo wir uns überhaupt befinden, das erschließt sich erst später. Bei der Arbeitsstelle von Ruth sieht es nicht besser aus, was in dem Fall aber zumindest noch irgendwie nachvollziehbar ist, denn was dort geschieht, davon sollte die Außenwelt besser nicht erfahren.
Sind diese anfänglichen Störfeuer, die auch durch Auslassungen und eine lückenhafte Erzählung ihre Wirkung erzielen, noch vergleichsweise subtil, wird Der Unschuldige mit der Zeit immer surrealer. Das allein ist aber kein Selbstzweck. Schließlich steht im Mittelpunkt eine Frau, die selbst Überblick und Halt verloren hat. Das weltweit gefragte Drama, welches unter anderem beim Toronto International Film Festival 2018 lief, schildert die Sinnkrise seiner Protagonistin nicht durch Dialoge oder Erklärungen, sondern indem es das Publikum in eine ähnliche Lage versetzt. Denn das muss sich zeitgleich einen Reim auf eine Welt machen, die für Ruth keinen wirklichen Sinn mehr ergibt, in der kein Halt mehr zu finden ist.
Vielfach versteckte Themen
Teilweise spricht der Film bei dieser Sinnsuche allgemeinere Themen an. Beispielsweise ist Ruths wissenschaftliche Arbeit kaum mit ihrer Religion zu vereinbaren, wenn Menschen plötzlich Gott spielen. Damit einher gehen auch Fragen, was genau der Mensch überhaupt darf und was nicht. Dass die Experimente von Ruth und ihrer Kollegen mindestens fragwürdig sind, dieser Ansicht dürften die meisten im Publikum sein. Der Unschuldige gibt darauf aber, wie bei den meisten angeschnittenen Themen, keine definitive Antwort. Der Film will höchstens zum Nachdenken anregen, teils auch provozieren – egal ob nun Gläubige oder Wissenschaftsanhänger.
Das ist zweifelsfrei interessant, wenn auch ein wenig schwierig, nicht wenige dürften mit großen Fragezeichen im Gesicht vor der Leinwand sitzen, selbst als längst der Abspann läuft. Das bezieht sich nicht nur auf einzelne Themengebiete, sondern auch das große Ganze. „Und was wollte der Film mir jetzt sagen?“, dürfte eine nicht selten fallende Äußerung nach dem Kinobesuch sein. Am besten funktioniert das Drama, wenn man dieses Bedürfnis nach Rationalität ganz beiseiteschiebt und es als Porträt eines Menschen begreift. Spannend ist Ruth sicherlich, aufgrund ihrer widersprüchlichen Biografie und der Wechselwirkung von Selbstbehauptung und Unterwerfung. Wie sie im Laufe des Films beginnt, sich wieder selbst zu suchen und andere zu hinterfragen, ist das durchaus sehenswert – auch weil Judith Hofmann, die hierfür den Swiss Film Award 2019 als beste Schauspielerin erhielt, mit beeindruckend subtilem Mienenspiel eine Frau darstellt, hinter deren ruhigen Fassade viel im Aufruhr ist.
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