Unser tägliches Verbrechen gib uns heute: Zuletzt meinte es Netflix wieder ausgesprochen gut mit den Fans von moralischen Abgründen, wenn in einer Reihe von Dokus die verschiedensten Beispiele menschlicher Kriminalität aufgezeigt wurden. Ob nun der Dauerbrenner Mord (Wer hat den kleinen Grégory getötet?), Vergewaltigung (Bikram: Yogi, Guru, Raubtier) oder Drogen (Die Welt der Drogen: Dope Stories), das Publikum hatte die freie Wahl zwischen diversen Verbrechen. Dabei gibt es auch welche, die nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind oder in einem Bereich stattfinden, wo wir selbst nicht so gern hinschauen: der Kommerz.
Insgesamt vier Beispiele vereint die neue investigative Serie Der Verbrauchermarkt: Ein kaputtes System. Diese Episoden sind völlig unabhängig voneinander, thematisch aber natürlich schon miteinander verbunden. In allen Bereich dreht es sich um Unternehmen, die sich mit dem Ziel der Gewinnmaximierung von moralischen Ansprüchen oder Verantwortung verabschieden. Vereinzelt handeln sie sogar tatsächlich kriminell: In Ätzende Kosmetik erfahren wir von Fälschungen im Bereich der Kosmetik. Diese nachgemachten Produkte haben dabei nicht nur weniger Wirkung als die Originale, sie können in manchen Fällen sogar gefährlich sein. Ein Opfer berichtet beispielsweise, dass einer dieser Fälschungen Sekundenkleber beigefügt wurde, um die gewünschte Konsistenz zu erhalten – mit dem Ergebnis, dass sie ihre Lippen nicht mehr öffnen konnte.
Tod aus Gier
Im Fall von Killerkommoden war es mehr Unachtsamkeit, verbunden mit etwas Schlampigkeit, die zu einem Unglück führte: Der etwas reißerische Titel bezieht sich darauf, dass Kommoden von Ikea einige Sicherheitsstandards nicht erfüllten. In Folge kippten mehrere dieser nicht gesicherten Möbelstücke um und töteten auf diese Weise kleine Kinder, die an ihren herumkrabbelten. Die Episode erzählt aber nicht nur von den Familien, die gegen das schwedische Unternehmen ankämpfen und wie der Versuch, Produktionskosten zu senken, Gefahren mit sich bringt. Auch der Holzverbrauch des Möbelriesen kommt unter die Lupe, wenn die Beschaffung des Materials auf fragwürdige Wege zurückgeht.
Um Gesundheit dreht sich auch die Folge Die große Dampfmaschine. In ihr widmet sich das Produktionsteam dem heiß umstrittenen Thema des Vapings. Bis vor Kurzem galten diese E-Zigaretten als die harmlosere Variante des Rauchens – bis in den USA mehrere Hundert Menschen aufgrund des Konsums erkrankt, einige auch daran starben. Dieses schaurige Ende wird hier angeschnitten, steht aber nicht im Mittelpunkt. Vielmehr interessiert sich Der Verbrauchermarkt: Ein kaputtes System dafür, wie dieses Genussmittel überhaupt zu einem solchen Phänomen wurde. Daran hatte die Tabakindustrie einen großen Anteil, ebenso an der Nikotinsucht, unter der viele Jugendliche inzwischen leiden. Um einen Unfall handelt es sich dabei jedoch weniger, vielmehr war die Abhängigkeit sogar das Ziel, lässt sich damit doch richtig viel Geld verdienen.
Selbst ist der Konsument
Der finanzielle Aspekt war es auch, der das Verbot von Plastiktüten in Texas wieder rückgängig machte, wie die Folge Die Recycling-Lüge erzählt. Eigentlich hatte man auf diese Weise der Vermüllung der Welt entgegenwirken wollen, bis das oberste Gericht befand, dass dies den Herstellern von Plastiktüten nicht zuzumuten war. Denn Plastik lässt sich, auch wenn die Hersteller gerne etwas anderes sagen, kaum recyclen. Stattdessen landen sie in Fernost, erst in China, später Malaysia, oder gleich im Meer. Das ist nicht nur hässlich, sondern auch gefährlich. Der Verbrauchermarkt: Ein kaputtes System“ erklärt unter anderem, wie das Plastik in den Meeren am Ende wieder bei uns landet, in unseren Körpern, ohne dass wir es bemerken.
Bei dieser Episode wird auch ein Aspekt besonders deutlich, der sich durch alle vier Themengebiete zieht: Der Konsument ist zum Teil selbst verantwortlich für das, was geschieht. Die Vaping-Epidemie lässt sich nicht nur auf verführerische Werbung, sondern auch auf Gruppenzwang zurückführen. Die gefälschten Kosmetika und billigen Möbel hängen mit dem Unwillen der Bevölkerung zusammen, für Qualität auch zu zahlen. Und die Plastikflut lässt sich wenn überhaupt, dann nur durch die Änderung unseres Konsumverhaltens aufhalten. Eine magische Maschine, die unseren Müll wieder weg macht, die hat bislang noch niemand gefunden. Der Verbrauchermarkt: Ein kaputtes System ist deshalb, anders als man erwarten könnte, nicht allein Kritik an den bösen Unternehmen, sondern hält auch dem Publikum daheim den Spiegel vor. Das ist unangenehm, schwerer zu verkaufen, aber eben wichtig, um das kaputte System wieder zu reparieren.
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