Wo bin ich hier? Als eine abgetrennte Hand in einem Pariser Labor zu sich kommt, wird sie von dem Willen angetrieben, den ursprünglichen Körper wiederzufinden. Doch das ist gar nicht so einfach. Zum einen weiß sie nicht, wo sich dieser befindet. Außerdem muss sie sich unterwegs gegen zahlreiche Gefahren wie Ratten, Tauben, Hunde und Menschen wehren – was als bloße Hand durchaus eine Herausforderung ist. Während sie sich so durch die Straßen der französischen Metropole kämpft, erinnert sie sich an das Leben, das sie früher hatte. An Naoufel, der früher Astronaut und Pianist werden wollte, dann aber als Pizzabote arbeitete und sich dabei in die Bibliothekarin Gabrielle verliebte …
Wenn Preise an Animationsfilme verliehen werden, dann lauten die Gewinner meistens Disney oder Pixar, sofern es sich nicht gerade um europäische Preisverleihungen handelt. Die interessantere Frage lautet dann meistens: Wer bekommt die anderen Nominierungen? Auch da gibt es die üblichen Verdächtigen von Laika über Aardman Animations bis zu Ghibli und Cartoon Saloon. Doch bei der nächsten Runde könnte mit Netflix ein Anbieter ein Wörtchen mitzureden haben, den zuvor niemand wirklich auf dem Schirm hatte. Grund sind zwei Animationsfilme, die sich der Streamingdienst einverleibt hat, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, jeder aber auf seine Weise herausragend ist: das wunderbare Weihnachtsmärchen Klaus und das surreale Drama Ich habe meinen Körper verloren.
Heiß begehrt und hoch gelobt
Einen bedeutenden Preis hat Letzteres bereits abgeräumt: der Nespresso Prize der International Critics’ Week von Cannes. Der wird von Journalisten und Filmkritikern verliehen, Ich habe meinen Körper verloren war der erste Animationsfilm, der diesen Preis in der bald 60-jährigen Geschichte der Veranstaltung gewann. Im Anschluss standen zahlreiche andere Festivalteilnahmen auf dem Programm. Tatsächlich war das Drama neben The Swallows of Kabul wohl der begehrteste Animationstitel des 2019er Festivaljahrgangs, was nicht nur einiges über die Qualität aussagt, sondern auch über die Zielgruppe. Die Adaption eines Werks von Guillaume Laurant (Die fabelhafte Welt der Amelie, Die Karte meiner Träume) richtet sich an ein erwachsenes Publikum, das ein etwas anspruchsvolleres und zugleich ungewöhnliches Programm bevorzugt.
Dabei ist der Einstieg von Ich habe meinen Körper verloren trügerisch. Wenn die abgetrennte Hand aus dem Labor schleicht und ein großes Abenteuer wagt, dann meint man abwechselnd in einem Horrorfilm oder einer Komödie gelandet zu sein. Einige der Begegnungen sind überraschend brutal, andere dafür witzig. Erst nach und nach realisieren wir, wohin die Hand will und wer ihr Besitzer war. Immer neue Flashbacks kommen hinzu, aus der Kindheit von Naoufel wie auch seines späteren Lebens als Erwachsener. Diese Erinnerungen erfolgen dabei teilweise chronologisch, oft aber auch nicht. Wie ein Puzzle setzen sich diese Szenen zusammen, welche von der Odyssee ihren Rahmen erhalten.
Die zufällige Schönheit des Seins
Diese leichten Mystery-Elemente – wie hat Naoufel die Hand verloren? Was ist mit ihm passiert? – weichen mit der Zeit dem Porträt eines Mannes, der selbst von früh an verloren war. Er landete bei Verwandten, die sich nicht kümmerten, übte einen Job aus, in dem er nichts zu suchen hatte, jagte später auf umständliche Weise einer Zufallsbegegnung hinterher. Denn das ist eines der Themen dieses Films: Wie Mein Ende. Dein Anfang. zeigt die französische Produktion auf, dass wir oft nicht die Kontrolle haben über unser Leben, haben können, sondern das Ergebnis vieler Zufälligkeiten sind. Die können schöner Natur sein oder auch sehr trauriger, sie bestimmen so oder so, wer wir sind und was mit unserem Leben geschieht. Dabei findet Ich habe meinen Körper verloren darin einen Trost, dass dieses Leben trotzdem weitergeht, selbst wenn nicht so klappt, wie wir es uns vorgestellt haben.
Ein solcher Trost wird in Filmen gerne mal ein wenig kitschig. Doch Regisseur Jérémy Clapin, der mit Laurant das Drehbuch schrieb, verweigert sich hier den Erwartungen und hat einen Film geschaffen, so poetisch und nachdenklich, wie kaum ein anderer in den letzten Jahren. Diese traumartige Atmosphäre wird dabei von einem wirkungsvollen Sounddesign und der Musik von Dan Levy, Teil des französischen Duos The Dø, noch weiter verstärkt. Wenn wir gemeinsam mit der Hand durch die dunkle, kalte Stadt streifen, mit Naoufel nach dem Horizont suchen, der von den Häusern verdeckt wird, den Wind spüren und dem Regen lauschen, dann wird Ich habe meinen Körper verloren zu einem Film, der gleichzeitig nicht von dieser Welt ist und doch mittendrin. Ein sinnlicher Moment des Jetztseins, während wir von einem unberechenbaren Strom durch das Leben gespült werden, auf der Suche nach Halt, Liebe und uns selbst.
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