Reconstructing Utoya

Reconstructing Utøya

Reconstructing Utoya
„Reconstructing Utøya“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Am 22. Juli 2011 tötete der Rechtsextremist Anders Behring Breivik 69 Jugendliche auf der norwegischen Insel Utøya, nachdem er im Zentrum Oslos eine Autobombe zündete, welcher acht Menschen zum Opfer fielen. Utøya hinterließ traumatisierte junge Menschen, die Überlebenden des schlimmsten Massakers in der Geschichte Norwegens. In Reconstructing Utøya stellen vier der Überlebenden die Geschehnisse mithilfe von zwölf Theaterdarstellern nach.

Friedliche Musik, eine schwarze Bühne und weißes Tape
Die ersten Kameraeinstellungen fangen ein Bergpanorama bei Abenddämmerung ein, die letzten Sonnenstrahlen auf einem klaren See, ein Idyll begleitet von friedvoller Musik. Rakel, Mohammed, Jenny und Torje erzählen nacheinander ihre individuelle Geschichte jenen Tages, der ihr aller Leben veränderte. Das friedliche Idyll der Insel, die ausgelassene Atmosphäre, die die Jugendlichen bis zu diesem Tag genossen, wich einem tiefen schwarzen Loch. Regisseur Carl Javér inszeniert eben dieses mithilfe einer riesigen schwarzen Bühne und jegliches Licht schluckenden schweren Vorhängen. Anhand von weißem Klebeband sollen alle vier die jeweiligen Grundrisse der Schauplätze auf dem Boden markieren.

Psychologisches Workout zur Verarbeitung des Traumas
Zwölf junge Theaterdarsteller betreten Rakels Nachstellung des Badesees und des angrenzenden Waldes, an dem sie sich zur Zeit des Attentats befand. Rakel wählt eine Darstellerin aus, die sie selbst verkörpern soll, und gibt detaillierte Regieanweisungen, um die Szenen ihrer Erinnerung genauestens nachstellen zu können. Der Fokus der Dokumentation liegt ausnahmslos auf den Sichtweisen der vier Überlebenden. Sie haben völlig freie Hand in ihrer Interpretation. Rakel macht sich auf die Suche nach einem Gegenstand, der die Schüsse des Attentäters wahrheitsgetreu wiedergibt. Mit einer Zange schlägt sie gegen verschiedene Metallgegenstände, bis sie sich schließlich mit einer Leiter zufrieden gibt.

„Psychologisches Workout“ nennt Rakel diese filmische Aufarbeitung. Die jungen Darsteller spielen ihre Rollen so überzeugend, dass sie bei allen vier Überlebenden starke Emotionen hervorrufen, allerdings auch bei sich selbst. Sie wollen wissen, wie der junge Mann war, mit dem Mohammed befreundet war und der direkt neben ihm erschossen wurde. Sichtlich berührt spielen sie unermüdlich die unvorstellbaren Szenen nach, mit dem Wissen, dass diese tatsächlich so erlebt wurden.

Hoffnung und Mut, trotz der Dramatik
„Reconstructing Utøya“ drückt nicht mit dem Finger in die Wunde. Vielmehr gibt Javér der großen Gruppe der Überlebenden eine Stimme und Möglichkeit, den Prozess der Bewältigung anzugehen. Man sieht eine enge Verbundenheit zwischen den Vieren und ihren Darstellern. Sie lachen, scherzen, umarmen sich.

Jenny erzählt von ihren fast übermenschlichen Fähigkeiten, auf der Flucht minutenlang durch das eiskalte Wasser zu schwimmen und von der unbändigen Freude, als sie am Ufer ihren Freund lebendig wiederfand. Auch diese Szenen werden nachgestellt. Genauso wie die Geschichte des anfangs etwas kühl wirkenden Torje, der damals erst 14 Jahre alt war und sah, wie seinem großen Bruder in den Kopf geschossen wurde. Die Kamera fängt Torjes Emotionen während der nachgespielten Szenen intensiv ein. Man spürt sofort, dass der Junge wieder mitten im Geschehen ist. Im Laufe des Film Camps öffnet er sich immer mehr, baut enge Verbindungen zu den Darstellern auf. Es ist, als könne man ihm bei seinem Verarbeitungsprozess zuschauen.

Genau dies macht Reconstructing Utøya so hoffnungsvoll, trotz der Schwere des Themas. Dem Attentäter wird kein Raum gegeben, es geht nicht um die Frage, was in ihm vorging, sondern was mit den Überlebenden passierte. Alle Emotionen sind ehrlich, nichts wirkt abgesprochen oder gestellt.  Trauer wechselt sich ab mit Freude, bis am Ende alle ausgelassen tanzen, das Leben feiern und schließlich die dunkle schwarze Bühne verlassen hinaus in die idyllische Natur.

Eine absolut sehenswerte Dokumentation, die der Trauma-Verarbeitung dienen soll. Die Szenerie, die Bildausschnitte und die musikalische Untermalung sind so reduziert gewählt, dass einzig und allein Rakel, Mohammed, Jenny und Torje im Vordergrund stehen. Alleine ihre Inszenierung des Erlebten trifft den Zuschauer bis ins Mark; erschüttert von dieser unerklärlichen Tat.



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"Reconstructing Utøya" zeigt das Attentat vom Sichtpunkt der Überlebenden aus und hilft ihnen gleichzeitig, das Trauma zu verarbeiten. Die Inszenierung ist ehrlich, reduziert und wirkungsvoll; absolut sehenswert.