Stumme Schreie
© ZDF/Britta Krehl

Stumme Schreie

Stumme Schreie
„Stumme Schreie“ // Deutschland-Start: 18. November 2019 (TV)

Als Jana Friedrich (Natalia Belitski) ihre Stelle beim renommierten Berliner Institut für Rechtsmedizin antritt, war sie natürlich auf schwierige Geschichten gefasst. Und doch ist der Schock groß, als sie Zeugin einer Reihe offensichtlicher Fälle von Kindesmissbrauch wird. Einfach nur zusehen, das fällt ihr schwer, auch wegen ihrer eigenen Erfahrungen. Vor allem der Fall um Nicole Binder (Hanna Hilsdorf) und ihren Lebensgefährten Ronnie (Julius Nitschkoff) geht ihr nahe. Ein Junge wurde dort offensichtlich so stark geschüttelt, dass er seinen Verletzungen erlegen ist. Und so beginnt sie entgegen der Warnungen ihres Mentors Prof. Bremer (Jürgen Maurer) selbst aktiv zu werden. Schließlich leben noch zwei weitere Kinder in dem Haushalt, die sie um jeden Preis beschützen will …

Eigentlich ist es die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder vor den Gefahren der Welt da draußen zu beschützen. Doch was, wenn die Bedrohung nicht von außen, sondern von innen kommt? Wenn ausgerechnet diejenigen, die einen liebevoll auf das Leben vorbereiten sollen, Gewalt anwenden, Sohn und Tochter schlagen oder anderweitig misshandeln? Das ist ein Thema, das zwangsläufig für Unbehagen sorgt, von dem wir nicht so viel wissen wollen – obwohl es deutlich häufiger ist, als man meinen sollte. Rund 500 Kinder sollen allein in Deutschland jeden Tag misshandelt werden, so das Sachbuch Deutschland misshandelt seine Kinder von Michael Tsokos und Saskia Guddat. Und ein Ende ist nicht in Sicht, denn aus früheren Opfern werden oft die Täter von morgen.

Gemeinsam in den Abgrund

Stumme Schreie, das sich von diesem Buch inspirieren ließ, nimmt nun die gesammelten Informationen, um damit ein größeres Publikum zu erreichen und zu sensibilisieren, in Form eines TV-Dramas. Das Szenario selbst ist dafür passend, wenn auch überraschend gewählt. Anstatt Sozialhelfern, Lehrern oder anderen Berufsgruppen das Wort zu überlassen, die tagtäglich mit Kindern zu tun haben, steht hier eine junge Medizinerin im Mittelpunkt. Also jemand, der fachlich auf die Verletzungen vorbereitet ist, nicht aber emotional. Jana, so wird schnell deutlich, ist überfordert von diesem Thema, da es ihr zu nahe geht. Ihr fehlt die Erfahrung, die Abgebrühtheit der Kollegen, stellt selbst aber den Schutz der Kinder über alles andere.

Sie steht damit stellvertretend für das Publikum, das auf diese Weise in die schwierige Thematik eingeführt wird und selbst vermutlich rein emotional einen Zugang findet. Es klingt ja auch zu absurd: Wenn ein Kind offensichtlich misshandelt wird, warum soll man ihm dann nicht helfen dürfen? Regeln und Gesetze bestimmen, wie es weitergeht, selbst wenn sie einem nicht gerecht erscheinen. Man muss Drehbuchautor Thorsten Näter, der die schwierige Aufgabe hatte, aus diesen Stoffen eine Geschichte zu machen, auch anrechnen, dass er versucht, den vielen Widersprüchen und der Komplexität gerecht zu werden. Dass er sich nicht komplett auf die Seite von Jana stellt, so groß die Versuchung auch offensichtlich war.

Viel Stoff, wenig Tiefe

Allerdings wird Stumme Schreie, das auf dem Filmfest München 2019 Weltpremiere hatte, das Format des Fernsehfilms zum Verhängnis. Das sieht schließlich vor, dass innerhalb von 90 Minuten ein Thema nicht nur aufgezeigt, sondern auch zu Ende gebracht werden muss – sonst gibt es böse Zuschriften vom Publikum. Das bedeutet, dass vieles hier nur angedeutet werden kann oder stark vereinfacht wird. Die beiden Fälle, mit denen sich Jana zunächst auseinandersetzen muss, werden abgeschlossen, ohne zu einem Ende zu kommen. Andere spannende Fragen – warum greift der Hausarzt der Familie nicht ein? – müssen mit nur wenigen Sätzen beantwortet werden. Eine wirkliche Diskussion kann auf diese Weise natürlich nicht entstehen.

Schlimmer noch hat es die Figuren erwischt, bei denen kein Platz für echte Persönlichkeiten bleibt. Sie alle folgen strengen Klischees, lassen kaum Platz für Ambivalenz. Ronnie ist nur dafür da, die Kinder zu schlagen, Nicole ist die Frau, die alles zulässt. Warum sie das tut, warum sie ihm so hörig ist, das spielt in dem Film keine Rolle. Dadurch wird das von Johannes Fabrick (Kleine Ziege, sturer Bock) inszenierte Stumme Schreie zunehmend didaktischer und leider auch unglaubwürdiger. Vor allem die völlig überzogene Dramatisierung gegen Ende hin schadet der Absicht, einen Blick in die Schlafzimmer der Nation zu werfen. Man hat einfach nicht mehr das Gefühl, wirklich bei einer Familie daheim zu sein, da wäre ein stärker dokumentarischer Ansatz nützlicher gewesen. Aber trotz des plumpen Holzhammers, der zum Ende geschwungen wird, der Film ist ein wichtiger Beitrag zu einem Thema, über das viel häufiger gesprochen werden sollte, und zeigt zumindest in Ansätzen, dass es da oft keine gute Antwort gibt.

OT: „Stumme Schreie“
Land: Deutschland
Jahr: 2019
Regie: Johannes Fabrick
Drehbuch: Thorsten Näter
Vorlage: Michael Tsokos, Saskia Guddat
Musik: Annette Focks
Kamera: Helmut Prinat
Darsteller: Natalia Belitski, Jürgen Maurer, Julius Nitschkoff, Hanna Hilsdorf, Timur Bartels, Amanda da Gloria

Filmfest München 2019



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Stumme Schreie
Fazit
„Stumme Schreie“ nimmt uns mit in ein Institut für Rechtsmedizin, wo eine junge Ärztin Zeugin von Kindesmissbrauchsfällen wird. Das Drama schneidet damit ein wichtiges Thema an und zeigt zumindest ansatzweise die Komplexität solcher Fälle. Aufgrund des zeitlichen Formats bleibt aber kein Raum für Tiefe, die Figuren werden auf ihre Funktion reduziert, zum Ende hin wird auch unnötig dramatisiert, was den Film Glaubwürdigkeit kostet.
6
von 10