Lange ist die 30-jährige Billi (Awkwafina), US-Amerikanerin chinesischer Herkunft, schon nicht mehr in ihrer Heimat gewesen. Und vermutlich hätte sich daran auf absehbare Zeit nichts geändert, wäre da nicht ihre Großmutter Nai Nai (Zhao Shuzhen). Denn die ist krank, todkrank sogar: Lungenkrebs im Endstadium, nur noch wenige Monate bleiben ihr. Sie weiß jedoch als einzige nichts von ihrer Krankheit – und das soll möglichst auch so bleiben. Und so organisiert die Familie flugs eine schöne Hochzeit für Billis Cousin, um so noch einmal einen Anlass zu haben, Angehörige aus aller Welt zusammenkommen zu lassen und sich von Nai Nai zu verabschieden. Ohne dass sie es merkt …
Basierend auf einer echten Lüge
Wie verabschiedet man sich, wenn die andere Person gar nicht weiß, dass ein Abschied bevorsteht? Um diese Frage kreist die Tragikomödie The Farewell, der erst zweite Langspielfilm von Regisseurin Lulu Wang, die genau wie die Protagonistin ihres Films im Alter von sechs Jahren gemeinsam mit den Eltern ihre Heimat China in Richtung USA verließ. Das ist natürlich kein Zufall, denn der Film ist explizit autobiografisch und basiert auf Wangs eigener Kurzgeschichte mit dem Titel What You Don’t Know. Darauf spielt auch der dem Film vorangestellte Claim „Based on an actual lie“ humorvoll an.
Zwischen den Welten
Diese (kollektive) Lüge und, wie sie moralisch zu bewerten ist, sind das zentrale Thema des exzellent besetzten Films. Insbesondere in der Hauptrolle brilliert die asiatischstämmige US-Schauspielerin und -Rapperin Awkwafina (bürgerlich Nora Lum), die aus Ocean’s 8 und Crazy Rich bekannt ist. Die von ihr gespielte Billi ist eine (unfreiwillige) Wandlerin zwischen zwei Welten: ihrem US-amerikanischen Freundeskreis und ihrer chinesischen Familie. Dieser Status wird gleich zu Beginn etabliert, als sie mit ihrer geliebten Großmutter in China telefoniert und mühelos polyglott zwischen Englisch und Mandarin wechselt. Die Prämisse, die nach einer schrecklichen französischen Familienkomödie klingt und auch sehr leicht ins Alberne bzw. Geschmacklose hätte abrutschen können, wird in The Farewell äußerst einfühlsam und zugleich humorvoll umgesetzt; bewegend, ohne in die Rührseligkeit abzurutschen – von der ärgerlich sentimentalen Musik einmal abgesehen.
„A good lie“
In China fühlt sich Billi zunächst fremd und muss einen mittelgroßen Kulturschock verarbeiten. Dieser stellt sich jedoch nicht angesichts irgendwelcher Oberflächlichkeiten ein, sondern ist das Resultat tiefgreifender kultureller und geradezu philosophischer Unterschiede, die der Film respektvoll und differenziert beleuchtet. Klar, da ist auch der „klassische“ (Generationen-)Konflikt zwischen traditionellen Geschlechterrollen auf der einen und (weiblicher) Selbstbestimmung und Unabhängigkeit auf der anderen Seite. In erster Linie aber thematisiert The Farewell den Umgang mit Trauer und Tod – universelle Phänomene, die jedoch vollkommen unterschiedlich aufgefasst werden.
So ist Billi – wie wohl auch einige Zuschauer*innen – zunächst geschockt vom Vorhaben der Familie, die Großmutter nicht über ihren eigenen Gesundheitszustand aufzuklären. Doch im Verlauf des Films wird klar, dass die moralische Einordnung keineswegs so einfach ist. Denn das Streben nach „Ehrlichkeit“ und „Wahrheit“ ist ein sehr westliches und mitunter egoistisches. In China, so erfährt man, verstehen viele Menschen sich und ihr Leben als Teil eines Ganzen, nämlich der Familie. Durch die kollektive Lüge nimmt die Familie die Last und die Angst eines einzelnen Familienmitglieds auf sich. Dieser Akt der Gnade ist Ausdruck eines tief empfundenen Zugehörigkeitsgefühls, das hier mit dem „westlichen“ Ideal des Individualismus kollidiert. So plädiert The Farewell dafür, vermeintlich feststehende Konventionen zu hinterfragen, und geht damit deutlich tiefer als die herkömmliche Culture-Clash-Komödie.
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