Zenong Zhou (Ge Hu) hat es nicht so mit dem Gesetz. Wozu auch? Das Stehlen von Motorrädern ist deutlich lukrativer, als einer geregelten Arbeit nachzugehen. Nur kann im Eifer des Gefechts auch schon mal etwas ziemlich schief gehen, vor allem wenn noch diverse andere Verbrecher bei der Geschichte beteiligt sind und jeder für sich um die Beute kämpft. Und es ist schief gegangen, sehr sogar. Nun ist er also auf der Flucht, vor Polizisten, vor Kollegen, und nur die Prostituierte Aiai Liu (Lun-Mei Gwei) kann ihm dabei helfen, seine Frau wiederzufinden …
Parallel zum Aufstieg zu einer Wirtschaftsmacht, die in nicht allzu ferner Zukunft wohl die größte der Welt sein wird, ist China auch filmisch zu einem Koloss herangewachsen. Davon bekommen wir hierzulande oft jedoch nur über Umwege etwas mit, beispielsweise durch westliche Filme, die plötzlich in China spielen, um deren zahlungskräftiges Publikum anzulocken. Die Produktionen aus Fernost selbst bleiben uns dafür oft vorenthalten. Wenn sind es Action-Filme, die ihren Weg zu uns finden. Denn anders als der oft eigene Humor oder Dramen, die sehr spezifisch von der eigenen Gesellschaft handeln, ist die Sprache der Gewalt eine universell verständliche.
Einfach komplex verpackt
Allein deshalb ist es schön, dass The Wild Goose Lake unter dem Titel Der See der wilden Gänse offiziell nach Deutschland kommt. Denn Action-Szenen gibt es hier einige, ausgesprochen gute sogar. Auf Festivals war der Film bereits mehrfach zu sehen, nach dem Debüt bei den Filmfestspielen von Cannes 2019 hat er einen beachtlichen Weg zurücklegt, hierzulande wie auch international. Und fast überall sorgte er für große, staunende Augen. Das hat zunächst eher weniger mit dem Inhalt zu tun. Die eigentliche Geschichte, die Regisseur und Drehbuchautor Yinan Diao (Feuerwerk am helllichten Tag) da erzählt, ist ausgesprochen simpel: Ein Gangster wird in eine Auseinandersetzung mit der Polizei verwickelt und ist im Anschluss auf der Flucht.
Diao gelingt es aber ganz gut, von dieser Einfachheit abzulenken. Da wäre zum einen die Erzählstruktur, die sich einer Chronologie verweigert. Der Film beginnt, als Zhou bereits längst auf der Flucht ist, was an der Situation aber nicht zu erkennen ist. Erst durch diverse Flashbacks erfährt das Publikum, wovon der Film eigentlich erzählt. Aber selbst dann erschließt sich nicht alles ohne weiteres, es tauchen hier so viele Figuren auf, dass man schnell den Überblick verliert, wer jetzt wer ist, wer mit wem zusammenhängt. Und überhaupt: Wer war eigentlich noch mal der Gute? Diese Frage wird bis zum Ende unbeantwortet bleiben, wenn Der See der wilden Gänse nicht nur die Verbrecher, sondern auch die Polizisten bei wenig vorzeigbaren Aktionen zeigt.
Ein komisches Kunstwerk
Was vordergründig ein simpler Thriller ist, hat so beiläufig auch etwas über das Land als solches zu erzählen. Das ist vergleichbar zu Asche ist reines Weiß letztes Jahr, ohne jedoch dessen zeitliche Dimension zu verfolgen. Stattdessen gibt es in Der See der wilden Gänse eine Momentaufnahme des Reichs der Mitte. Eine Momentaufnahme, die gleichzeitig erschreckend und schön ist. Von Anfang an zeigt sich der Film bei seiner Neo-Noir-Anmutung von großer Kunstfertigkeit. Der Regen, die Nacht, die schöne Fremde, die Neon-Farben, da hat jemand die Klassiker von einst sehr genau angeschaut und seine eigene Fassung daraus gemacht. Die Atmosphäre stimmt hier bereits, lässt einen auf das hoffen, was noch folgen wird.
Zur Hochform läuft der Film jedoch dann auf, wenn er sich von den Vorbildern löst und wirklich ungewöhnliche Bilder findet. Da sind Verfolgungsjagden dabei, die ein optischer Hochgenuss sind, kunstvoll und gleichzeitig skurril. Ein spezieller Workshop ginge sogar als reine Komödie durch, so lustig ist der Anblick. Hinzu kommt, dass Der See der wilden Gänse nie stehenzubleiben scheint, sondern durch die ganze Stadt führt, dabei immer wieder originelle Mittel findet, das Ganze in Szene zu setzen. Die wild herumwirbelnde Kamera in Kombination mit ungewöhnlichen Lichtmitteln bleiben in Erinnerung, ebenso ein Regenschirm, der zweckentfremdet wird. Inhaltlich ist das trotz der kleinen gesellschaftlichen Verweise zu vernachlässigen, auch die Wendungen führen letztendlich zu nichts. Es ist einem sogar herzlich egal, was nun genau mit Zhou passiert – so lange es so stylisch mit ihm zu Ende geht, wie es begonnen hat.
OT: „Nan Fang Che Zhan De Ju Hui“
Land: China, Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Yinan Diao
Drehbuch: Yinan Diao
Musik: B6
Kamera: Jingsong Dong
Besetzung: Ge Hu, Lun-Mei Kwei, Fan Liao, Regina Wan, Liang Qi
Cannes 2019
Filmfest München 2019
Toronto International Film Festival 2019
Sitges 2019
Heimspiel Filmfest 2019
Around the World in 14 Films
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