Es ist mal wieder Zeit für Verbrechen! Über den moralischen Aspekt dieser True Crime Dokus kann man sich streiten, die recht ungehemmt die Sensationsgier des Publikums bedienen, wenn detailgetreu über reale Morde oder andere Grausamkeiten gesprochen wird. Aber der Erfolg gibt ihnen recht, gerade Netflix hat inzwischen eine treue Zuschauerschar, die regelmäßig mit neuen Geschichten gefüttert werden will. Oder eben alten Geschichten, wenn nach und nach lang zurückliegende Fälle neu aufgerollt werden. Im Fall von Wer hat den kleinen Grégory getötet? betrifft es Grégory Villemin, der 1984 im Alter von gerade mal vier Jahren entführt, ermordet und anschließend gefesselt in einen Fluss geworfen wurde.
Aber wer wäre zu einer derart scheußlichen Tat imstande? Das fragten sich nicht nur damals die Leute. Sie tun es noch immer, 35 Jahre später bleibt der Fall unaufgeklärt. Da stellt sich natürlich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer solchen Dokumentation. Dem Publikum einen mysteriösen Fall zu präsentieren, aber keine Lösung dafür parat zu haben, das ist schon recht gemein. Zumal es hier auch an echten Verdächtigen mangelt, um die Krimiliebhaber*innen zu befriedigen. Im Grunde läuft es auf zwei Personen hinaus, die stärker in Verdacht geraten, plus ein bisschen um deren Umfeld herum.
Schuldige gibt es überall
Interessanter ist Wer hat den kleinen Grégory getötet? da schon als Dokumentation, was ein solcher Fall mit den Menschen macht. Das betrifft einerseits die Eltern, die nie über die Geschichte hinweggekommen sind, auch Jahrzehnte später. Schockierend ist in dem Zusammenhang aber vor allem das Verhalten von Justiz und Presse. Erstere war vornehmlich daran interessiert, schnell einen Schuldigen zu finden, um die Menschen da draußen zu beruhigen. Dafür sah man das selbst mit den Rechten nicht so ganz streng, der Zweck heiligte die Mittel. Die Medienvertreter*innen wiederum werden hier zu blutrünstigen Aasgeiern, die sich auf alle Beteiligten stürzen, ohne jeglichen Respekt für die Privatsphäre.
Ähnlich zu Der Teufel wohnt nebenan kürzlich ist Wer hat den kleinen Grégory getötet? deshalb auch nur zum Teil mit dem Fall an sich beschäftigt und der Wahrheitsfindung. Vielmehr zeigt die Serie, wie sich solche Geschichten verselbständigen können und eine Eigendynamik entwickeln. Die verständliche Sehnsucht danach, jemanden für die realen Verbrechen zu bestrafen, überschattet bald alles andere, was nicht nur während der Ermittlungen und der Rechtsprechung für Skandale sorgt. Einer der Richter nutzte die Gelegenheit beispielsweise, um kräftig Kasse zu machen, und wurde dafür später selbst zum Gejagten. Denn wenn die Bevölkerung erst einmal jemanden gefunden hat, den sie an den Pranger stellen will, gibt es kaum mehr ein Entrinnen.
Darüber hinaus ist Wer hat den kleinen Grégory getötet? nur wenig erwähnenswert. Der Aufbau ist ganz klassisch: Die Geschichte wird chronologisch erzählt, in einem Wechsel von historischen Aufnahmen und aktuellen Interviews. Die Zahl der Gesprächspartner ist dabei überschaubar, da viele nicht mehr öffentlich darüber sprechen können oder wollen. Um diese überschaubare Abwechslung irgendwie zu übertünchen, wird des Öfteren kräftig dramatisiert. Aufnahmen aus dem Gerichtssaal, in dem ein Rabe hockt – in Anlehnung an einen Erpressungsfall, der dem Mord vorausging –, sollen beispielsweise für Stimmung sorgen, irritieren aber eher, gerade auch durch die Wiederholungen. Das Zielpublikum wird das aber eher weniger stören und darf hier wieder spekulieren, was wirklich vorgefallen ist, wird damit gut beschäftigt sein – bis Netflix die nächste Leiche ausgräbt.
OT: „Who Killed Little Gregory?“
Land: Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Gilles Marchand, Anna Kwak Sialelli
Musik: Yuksek
Kamera: Céline Bozon
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