Das Leben ist gerade reichlich kompliziert für Ada (Mame Bineta Sane). Sie solle sich glücklich schätzen, so wird ihr immer wieder gesagt, dass sie Omar (Babacar Sylla) heiraten darf. Der ist jung, sieht gut aus, hat Geld. Nur, Ada liebt ihn nicht. Stattdessen gehört ihr Herz dem mittellosen Souleiman (Ibrahima Traoré), einer der Bauarbeiter, die gerade ein Hochhaus in einem Vorort von Dakar errichten. Mit ihm will sie eine Zukunft, gegen den Widerstand ihrer Familie. Umso schockierter ist sie, als sie erfährt, dass Souleiman und andere Arbeiter nachts mit einem Boot davongefahren sind, um woanders ihr Glück zu suchen. Oder vielleicht doch nicht? Als am Hochzeitstag von Ada Omars Bett in Flammen aufgeht, richtet sich der Verdacht gegen Souleiman, der angeblich gesehen worden sein soll …
Man muss die Veröffentlichungspolitik von Netflix nicht immer verstehen. Grundsätzlich scheint der Streamingdienst vor allem an Titeln interessiert, mit denen die Massen sich anlocken lassen, ergänzt um Prestigefilme von etablierten Regisseuren, mit denen ein paar Preise abgeräumt werden sollen – siehe Roma, The Irishman oder Die Geldwäscherei. Gleichzeitig stöbert er aber auch bei Filmfesten herum und kauft dort immer mal wieder Titel ein, die weder in ein das eine oder das andere Raster passen. Hoch gelobte Arthouse-Dramen, die ein spezielles Publikum ansprechen, das gar nicht zur Netflix-Zielgruppe gehört. Allein schon weil Netflix böse, da Kino tot machen.
Ausgezeichnetes Neuland
Atlantique ist einer dieser Titel, die nirgendwo so richtig reinpassen, von dem der Anbieter aber offensichtlich überzeugt genug war, eine deutsche Synchronisation in Auftrag zu geben – bei solchen Nischen-Festivalfilmen eine absolute Ausnahme. Aber irgendwie ist dieses Drama in so ziemlich jeder Hinsicht eine Ausnahme. Als es 2019 im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes lief, war es der erste Film einer schwarzen Regisseurin, dem in der über 70 Jahre dauernden Geschichte des Traditionsfestivals diese Ehre zuteilwurde. Den Hauptpreis, die begehrte Goldene Palme, konnte Regisseurin und Co-Autorin Mati Diop zwar nicht für sich reklamieren. Dafür gab es den zweitwichtigsten Preis, den Großen Preis der Jury, den zuletzt 120 BPM und BlacKkKlansman gewonnen hatten.
So wie die beiden Vorgänger auch ist Atlantique mit gesellschaftlichen Missständen beschäftigt, verbunden mit persönlichen Schicksalen. Auf Anhieb würde man meinen, Diop erzählt die übliche Geschichte eines jungen Paares, das nicht zusammen sein darf. Variationen dieses Motivs hat es seit Romeo und Julia unzählige gegeben. Nur dass es hier keine verfeindeten Familien gibt. Vielmehr steht Ada in der Pflicht, die Traditionen zu bewahren. Soll heißen: Spaß ist nicht erlaubt, geheiratet wird, weil die Familie es so will. Als nur wenige Filmminuten später Souleiman verschwunden ist, schaut nicht nur die 17-Jährige ungläubig drein, dem Publikum geht es ähnlich.
Eine mysteriöse Genremischung
Die Verwirrung steigert sich mit der Zeit noch, als Atlantique eine ganze Reihe von Genres streift. Das Thema Liebe bleibt. Gleiches gilt für die anfänglichen Kommentare über eine Gesellschaft, in der einfache Arbeiter sich für ein futuristisches Luxusgebäude zu Tode schuften, in denen es für sie nie Platz geben wird. Sie bekommen ja nicht einmal ihren Lohn. Doch dieser dokumentarische Teil bekommt bald eine mysteriöse, später sogar eine mystische Note. Ist Souleiman wirklich zurückgekehrt? Und wenn ja, warum hat er sich nicht bei Ada gemeldet? Und das ist nicht das einzige Rätsel, das Diop dem Publikum mit auf den Weg gibt, verhalten sich doch in der Folge viele auf eine Weise, die sie selbst nicht wirklich verstehen.
Atlantique gelingt es dabei sehr gut, diesen diffusen, kaum zu fassenden Inhalt in die richtigen Bilder zu packen. Der Film ist oft dunkel, spielt in geschlossenen Räumen, spielt mit einem diffusen Licht. Und auch Kontraste werden gern und oft genutzt: Der in den Himmel ragende Turm, der so gar nicht in die Umgebung passt, der Atlantik, der gleichermaßen Gefängnis wie auch Chance bedeutet. Das fügt sich zu einem der ungewöhnlichsten Flüchtlingsdramen zusammen, sofern man das hier überhaupt noch als ein solches bezeichnen wollte. Die wenig greifbare Natur führt dazu, dass einiges nicht so wirklich zu Ende ausformuliert wird, die Vielzahl an Themen verhindert eine wirklich ausführliche Beschäftigung. Und doch darf man hier Netflix dankbar sein, dieses ungewöhnliche Werk aufgelesen zu haben: Selbst wenn sich keine Massen hierfür finden werden, das eigenartige Spielfilmdebüt der jungen Regisseurin weckt Neugierde auf das, was sie beim nächsten Mal finden wird.
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