In seinen meist mehrstündigen Produktionen befasst sich der philippinische Regisseur und Drehbuchautor Lav Diaz vor allem mit der Geschichte seines Landes, der Gegenwart, der Vergangenheit, aber auch die Zukunft, welche aus ihnen erwachsen könnte. Seine Filme wie Lullaby to a Sorrowful Mystery, Norte, the End of History oder The Woman Who Left liefen auf vielen internationalen Festivals und brachten ihrem Regisseur viele Ehrungen ein, wie beispielsweise den Goldenen Löwen der Filmfestspiele in Venedig oder den Goldenen Leoparden der Filmfestspiele in Locarno. Auf dem diesjährigen Filmfest Hamburg ist Lav Diaz gleich mit drei Filmen vertreten, nämlich Death in the Land of Encantos, seinem neuesten Film The Halt sowie die Musical In Zeiten des Teufels. Wir sprachen mit dem Regisseur über seine Art des Filmemachens, über das Label des slow cinema sowie über die Arbeit mit den Schauspielern in seinen Filmen.
Als The Halt bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes gezeigt wurde, konnten sie aus terminlichen Gründen nicht anwesend sein, sodass eine ihre Schauspielerinnen ein von Ihnen verfasstes Statement dem Publikum vorlas. In diesem empfahlen Sie den Genuss von „gutem Acid“, bevor man sich den Film ansieht. Auch wenn es bestimmt humorvoll gemeint war, gab es Ihrerseits da Hintergedanken?
(lacht) Ach, das war nur ein Scherz. Im Vorfeld war die Situation mit dem Filmfestival sehr angespannt, weil sie mich natürlich für die Vorführung des Films da haben wollten. Aber ich konnte meine Studenten in Kuba nicht alleine lassen [zu der Zeit leitete Diaz ein Seminar an der Filmschule San Antonio de los Baños in Kuba]. Also habe ich diese Einführung zum Film geschrieben, um die Stimmung etwas aufzuheitern.
Der Hinweis ist aus dem Grunde auch interessant, wenn man bedenkt, was für ein dunkler, teils hoffnungsloser Film The Halt ist. Haben Sie Hoffnung für die Zukunft? Was können wir alle tun, damit eine solch dunkle Vision wie die im Film nicht Realität wird?
Na klar habe ich Hoffnung. Auch im letzten Teil des Films kann man viel Hoffnung sehen. Wir müssen zu den grundlegenden Dingen unseres Lebens zurückkehren, um die Welt zu retten oder so eine Vision zu verhindern. Dies gilt auch für unsere Umwelt, was genauso ein Aspekt ist, der in The Halt thematisiert wird. Schließlich liegt im Film ganz Südostasien in Dunkelheit nach einer verheerenden Vulkaneruption.
Natürlich kann man The Halt als einen dunklen Film betrachten, aber für mich gibt es auch sehr viel Hoffnung in ihm, denn er verlangt von uns, die Welt um uns herum genau zu betrachten, zu analysieren.
Im Hinblick auf deren Atmosphäre ist The Halt in gewisser Weise eine Ergänzung zu Ihrem letzten Film In Zeiten des Teufels. Beide beschreiben eine Bevölkerung, die sich in einem Zustand der Gleichgültigkeit befindet. Ist dieses Phänomen etwas, das Sie nur in Ihrer Heimat beobachten konnten oder würden Sie sagen, es handelt sich hier um ein weltweites Problem?
Dieses Phänomen kann man auf die ganze Welt beziehen. Die Welt ist eine Art Kontinuum, wir sind alle in gewisser Hinsicht miteinander verbunden und viele Phänomene finden parallel an vielen Orten statt. Der Kampf vieler Filipinos ist genauso der Kampf der Syrer oder der Russen.
Meine Filme sehe ich nicht als separate Werke, sondern als einen einzigen Film, in dem alle Teile verbunden sind. Man kann sie alle hintereinander sehen und erhält eine Geschichte des Kampfes der ganzen Menschheit.
Viele Rezensenten haben sich natürlich auf den Charakter des Präsident Navarra in The Halt gestürzt und geschrieben, dies seine eine offensichtliche Anspielung an Figuren wie President Rodrigo Duterte oder gar Donald Trump. Was sagen Sie zu derlei Äußerungen?
Er symbolisiert alle diese Menschen. Ich erschuf ihn als eine Figur, die alle Despoten in sich vereint, alle totalitären Anführer und Größenwahnsinnigen. Navarra ist ein Konstrukt aus Assad, Putin, Trump, Duterte, Marcos, sogar jemandem wie Anton Hynkel, den Charlie Chaplin in Der große Diktator spielt.
Wenn man sich die vielen politischen Führungspersönlichkeiten der Welt ansieht, läuft es leider immer darauf hinaus, dass wie solche Menschen wie die von mir genannten wählen. Diese psychotischen, verrückten, aber irgendwie lustig aussehenden Menschen. Wenn man sich den Lauf der Geschichte ansieht, waren immer Menschen wie sie an der Macht.
Diese Szene, in der Joel Lamangan als Präsident Navarra einen Paranoia-Anfall bekommt, wie wild mit Pistolen zu Heavy Metal Musik tanzt, war die auch von dem berühmten Tanz mit Weltkugel aus Der große Diktator inspiriert?
Chaplins Film war eine wichtige Inspiration für The Halt. Vor allem die Vorstellung Chaplins als dieser größenwahnsinnige Diktator.
Dystopische Filme oder dystopische Literatur von George Orwells 1984 bis zu Aldous Huxleys Schöne neue Welt sind auch immer Werke des Science-Fiction-Genres. Ist The Halt für Sie ein Science-Fiction-Film?
Ja und nein. Natürlich kann The Halt Teil des Genres sein, ist aber auch sehr in der Realität verankert, selbst wenn es im Film um das Jahr 2034 geht. Die Geschichte rund einen Machtmenschen wie Navarra kann genauso gut in der Vergangenheit wie in unserer Zeit spielen. The Halt beschreibt einen Kreislauf, der immer wiederkehrt. Aus diesem Grunde ist The Halt bestimmt ein Science-Fiction-Film, aber mit Sicherheit auch ein sozial-realistisches Drama.
Sie verfolgen einen, sagen wie mal, sehr langsamen Stil in Ihren Filmen. Diese dauern meist sehr lange und die Szenen sind oft sehr lang und mit einer statischen Kamera aufgenommen. Ist dieser Stil eine bewusste Entscheidung auf Basis der Themen, die Sie behandeln, oder liegt es an der Form?
Ich glaube, ich brauche dieser Herangehensweise, damit mein Zuschauer sich wirklich mit dem Absurden in unserer Welt befasst. Von daher möchte ich nicht so viel am Bild manipulieren, was die langen, statischen Einstellungen erklärt. Das Publikum soll genau beobachten, nicht manipuliert werden. Zudem möchte ich mich als Regisseur nicht auf die im Film üblichen Werkzeuge der Manipulation einlassen.
Daneben soll mein Film die Realität widerspiegeln, was ich mit dieser Herangehensweise zu erreichen versuche. Das Publikum, also wir alle, können so zu Zeugen von dem werden, was in der Welt geschieht.
In vielen Publikationen wird Ihrem Kino oft das Label des „slow cinema“ verpasst und im gleichen Satz genannt wie die Filme eines Andrei Tarkovsky. Abgesehen einmal davon, dass dies bestimmt ein sehr schmeichelhafter Vergleich ist, was halten Sie denn von diesem Label an sich?
Ich schätze Tarkovsky, aber ich kann mit dem Begriff langsam in Zusammenhang mit meinen Filmen nichts anfangen. Die Filme der Filipinos sind naturgemäß anders und folgen einem eigenen Rhythmus. Regisseuren wie Béla Tarr, Fred Kelemen oder eben mir wird gerne dieses Label verpasst, nur weil wir anders sind, weil wir uns nicht gewissen, dem Mainstream eigenen Methoden oder Techniken verschreiben. Für mich gibt es kein langsames Kino, kein „slow cinema“, denn es ist alles nur Kino letzten Endes.
Bezogen auf In Zeiten des Teufels, wann wussten Sie, dass der Film ein Musical sein wird?
Das geschah zufällig. 2016 und 2017 arbeitete ich an einem Buch über philippinisches Kino und an der Idee zu einem film noir. Während einer kurzen Schreibpause ging ich durch die Straßen und fand einen Händler, der eine Gitarre sehr billig an mich verkaufte. Von diesem Tag an spielte ich jeden Tag auf der Gitarre, sodass nach und nach immer neue Songs entstanden.
Zu dieser Zeit kam Präsident Duterte an die Macht in den Philippinen, was seinen sogenannten Krieg gegen die Drogen nach sich zog. Dieses Blutvergießen, diese Form der Gewalt war mir neu, wie auch vielen Menschen dort. Diese Ereignisse und Zustände finden sich in den Song wieder.
Nach einiger Zeit hatte ich so viele Songs geschrieben, dass ich den Freund anrief, der mir helfen sollte, das Geld für den geplanten film noir aufzutreiben, und ihm sagte, ich werde nun anstelle dessen ein Musical, eine Rockoper machen. Sie war schockiert, als die das hörte.
Natürlich konnten wir aufgrund der erwähnten Lage auf den Philippinen nicht drehen, aber die Songs sowie der Film, der recht bald um diese entstand, behandelten nun einmal, was gerade in meiner Heimat geschah. Im Dezember des gleichen Jahres haben wir dann in Malaysia nach passenden Locations und Schauspielern gesucht. Mitte des Monats haben wir dann mit dem Drehen des Films begonnen. Die Einwohner Malaysias und Filipinos sehen einander ähnlich. Dann haben wir so viele Dörfer gefunden, die denen auf den Philippinen ähneln, sodass der Unterschied so gut wie nicht auffällt.
Das ist die Geschichte, wie In Zeiten des Teufels entstand. Es war ein natürlicher, zufälliger Prozess.
Wie arbeiten Sie mit Schauspielern? Gerade bei diesen vorhin angesprochenen langen Takes muss die Architektur einer solchen Aufnahme sehr komplex sein. Und in Bezug auf In Zeiten des Teufels, gab es Workshops für die vielen Gesangsszenen?
Jeder Schauspieler ist anders und verlangt von mir eine andere Herangehensweise. Als Regisseur fällt es mir zu, diese Menschen in gewisser Weise zu analysieren, ähnlich einem Therapeuten, sodass ich den für sie besten Weg finden kann zu arbeiten. Der eine Darsteller fragt nur bezogen auf den Charakter, den er oder sie spielt, wohin gegen jemand anderem, diese Antworten nicht reichen und er oder sie mehr wissen will.
Ich arbeite also mit Schauspielern, indem ich sie kennenlerne, sie analysiere. Wenn jemand sehr schweigsam ist, respektiere ich das, doch wenn jemand sehr viele Fragen hat, versuche ich diese zu beantworten.
Im Falle von In Zeiten des Teufels habe ich den Darstellern die Lieder im Vorfeld gegeben und gebeten, dass sie diese auswendig lernen, da sie im Film benutzt werden. Am Set in Malaysia haben wir dann geprobt, gegebenenfalls Änderungen an den Songtexten oder den Szenen gemacht und ich habe ihnen alles gesagt, dass dieser Film kein typisches Musical sein wird. Die Songs würden alle a-Capella gesungen, sehr rau sollen sie klingen und es wird wenig Proben geben sowie keinerlei instrumentale Unterstützung. Ich sagte ihnen außerdem, dass sie nicht wie ein professioneller Interpret singen sollen, sondern so, wie sie diese singen wollen. Natürlich mussten wir dabei auf einen bestimmten Rhythmus achten, ein bestimmtes Timing, was für viele von ihnen eine große Herausforderung war.
Ihre Filme verlangen letztlich auch dem Zuschauer einiges ab, nicht nur aufgrund der Laufzeit, sondern auch wegen der Themen und ihrer Darstellung. Wie würden sie auf einen Zuschauer reagieren, der sagt „Herr Diaz, ich respektiere, was sie mit dem Film erreichen wollen, aber das ist zu grausam.“?
(lacht) Ich respektiere den Zuschauer und eine solche Reaktion. Wenn ich einen Film mache, dann denke ich aber nie an den Zuschauer, sondern daran, wie ich diesen besser machen kann, näher an der Wahrheit oder klarer. Das Publikum erhält dann eine Einladung, diese Geschichte mit diesen Figuren zu durchleben. Für mich steht das Material – das Thema, die Bilder, die Charaktere – an erster Stelle. Ich könnte mich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass dem Publikum höchstens zwei Stunden für einen Film zugemutet werden darf oder nur leichte Stoffe. Wenn ich den Zuschauer erreichen will, seine oder ihre Sicht auf die Welt ändern will, will ich nicht an Laufzeiten oder anderes denken.
Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.
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