Generell ist es eine Herausforderung für jeden Filmemacher, das Leben eines Menschen zu erzählen, ganz besonders, wenn dieser so viele andere Menschen durch seine Kunst berührt hat. Die Dokumentationsreihe American Masters des US-amerikanischen Senders PBS hat es sich seit ihrer Entstehung im Jahre 1986 auf die Fahne geschrieben, durch ihre Projekte an eben jene Menschen zu erinnern, welche die Künste nachhaltig geprägt haben. Die Episoden, die teils im Netz zu finden sind, thematisierten das Leben und Schaffen von Künstlern wie Charlie Chaplin, Leonard Bernstein, Mark Rothko und Andy Warhol.
In der Vergangenheit arbeitete US-Dokumentarfilmer Stanley Nelson bereits zusammen mit den Produzenten der Reihe. Im Laufe seiner langen Karriere behandelte Nelson immer wieder Künstler, aber auch Aktivisten und Bewegungen, die sich für die Rechte der Afroamerikaner einsetzten, griff dabei sogar umstrittene Gruppierungen auf wie die Black Panthers. Nelsons Passion für politische Themen sowie seine Liebe zum Jazz waren die ausschlaggebenden Gründe, warum er, wie er in Interviews sagt, den Produzenten von American Masters vorschlug, einen Film über Miles Davis zu machen.
Musik als Entkommen
Über zwei Stunden erzählt Nelsons Film die Lebensgeschichte des Ausnahmekünstlers Miles Davis, von seiner Geburt im US-Bundesstaat Illinois über seine großen Erfolge, beispielsweise das Kind of Cool Album, bis hin zu seinem Tod im Jahre 1991. Neben Angehörigen, Freunden und Musikern kommt auch immer wieder der Musiker selbst zu Wort durch Schauspieler Carl Lumbly, der in Deutschland zuletzt in Doctor Sleeps Erwachen zu sehen war. Außerhalb der Musik wird Miles’ Umgang mit dem Erfolg, seine Liebschaften sowie seine Drogensucht behandelt, aber auch wie er mit dem alltäglichen Rassismus in seiner Heimat in Berührung kam.
Inwiefern man als Bewunderer oder Jazz-Connaisseur Neues über Miles Davis erfährt, bleibt, wie bei so vielen Künstlerdokumentationen, Ansichtssache. Was aber in jedem Fall bestehen bleibt, ist das Bild eines von der Musik besessenen, eines getriebenen Menschen, für den das Beste nicht gut genug war, der aber bei allem Perfektionsdrang den Fluss und die Schönheit seiner Kunst nie aus dem Auge verlor. Von daher ist es weniger die Chronologie dieses Lebens, sondern vielmehr die Sprache, die Davis am besten beherrschte – die der Musik – die diesen Film vorantreibt. In Zusammenhang mit den Bildern nähert sich Nelson dem an, was Davis empfunden haben mag, seiner Energie, dem Drang zu leben aber auch dieser Wut in ihm.
Mehr als nur ein Leben
Abseits der Künstlerbiografie darf man eine Dokumentation wie Miles Davis – Birth of the Cool auch als ein Zeitporträt betrachten. Fanden sich Spuren der Zeit im Jazz eines Miles Davis, eines Dizzy Gillespie oder eines Charlie Parker, so sind ihre Leben gleichsam Geschichten eines Amerikas der Rassentrennung und der Ungerechtigkeit auf der einen Seite sowie der pulsierenden Vitalität der Künste auf der anderen Seite. Collagenartig, durch erwähnte Interviews sowie Archivaufnahmen werden immer wieder schlaglichtartig wichtige Momente US-amerikanischer Geschichte in die Biografie Miles Davis’ eingeflochten.
Zurück bleibt auch in Nelsons Dokumentation der Genie-Gedanke, die Idee eines Menschen, der durch die Perfektion seiner Kunst unerreichbar und damit unerklärbar bleibt. Nelson, genauso wenig wie seine Interviewpartner, maßen sich an, Erklärungen zu haben für die Widersprüchlichkeit eines Künstlers, dessen Musik von Leben definiert war, der aber andererseits zum Exzess, zur Drogensucht neigte. Das Image des „cool“, welches sich in der Musik und im Auftreten eines Miles Davis zeigt, ist gleichsam auch eine Art Schutzschild, wie es im Film heißt, vor der Welt, vor den Augen anderer und vor den eigenen Emotionen, die ihr Ventil in diesen eindringlichen Musikstücken finden.
OT: „Miles Davis – Birth of the Cool“
Land: USA
Jahr: 2019
Regie: Stanley Nelson
Musik: Heiner Bomhard, Lars Niekisch, Andreas M. Wolter
Kamera: Henry Adebonojo, Herve Cohen, Eric Coleman, Marc Gerke, Jerry Henry, Mead Hunt, Clare Major, Antonio Rossi
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