„Man kann sich ihrem Charme nur schwer entziehen“. Auch wenn das, was Susan mal von ihrer Therapeutin gesagt bekam, für sie eher ein Witz ist, so trifft die Aussage doch mehr als den Nagel auf den Kopf. Von Beginn an strahlt die Anfang 50-jährige, gebürtige Berlinerin und Halbitalienerin eine unglaublich interessante Präsenz aus, der man sich wahrlich nicht widersetzten kann. Die Dokumentation lief bereits auf dem Achtung Berlin Festival und wurde von Susans langjährigem Freund Tim Lienhard umgesetzt. In dem Fall verzichten wir auf den Ausdruck inszeniert, denn die Dokumentation zeigt Susan wie sie ist, mit allen Stimmungslagen, mit allem was sie aus ihrem Leben erzählen möchte.
Tim Lienhard versteht seinen Film über seine Freundin auch als eine verantwortungsbewusste Liebeserklärung an sie. Dass das, was Susan preisgibt, wirklich Feingefühl erfordert, wird schnell klar, wenn sie offen und schonungslos über ihren sexuellen Missbrauch berichtet, der ihr Leben mit 11 Jahren enden ließ, wie sie selbst sagt. Und das auch, obwohl sie bis jetzt 1000 Leben gelebt hat und nicht eines davon noch einmal leben wollen würde. Insofern musste der Regisseur schon abwägen, was kann erzählt werden, was vielleicht nicht, auch zum Selbstschutz von Susan.
Das Puzzle einer Frau
Die Frau, die eben nicht nur unter dem sexuellen Missbrauch als Kind leidet, sondern auch als schizo affektiv und bipolar diagnostiziert wurde. Was das genau heißt, weiß nicht mal sie selbst so genau, nur ein Wikipediaeintrag verhilft gegen Ende noch zu etwas Klarheit. Aber eigentlich ist das auch gar nicht so wichtig, um zu verstehen, dass Susans Leben ähnlich wie dem Aufbau der Dokumentation aus vielen kleinen Puzzleteilen besteht, die sich der Zuschauer selbst zu einem großen Ganzen zusammenstellen kann, um ein Bild von ihrer Person zu bekommen. Und das es da nicht nur die gebrochene, aber unendlich lebensmutige Seite von ihr gibt, wird später deutlich, wenn sie von ihrer Schulzeit und beruflichen Anfängen erzählt. Denn die so ausdrucksstarke Frau ist eben auch hochintelligent, spricht fünf Sprachen, konnte aber wegen ihrer Persönlichkeit und auch wegen ihrer sehr abgeklärten Sicht auf die Dinge nie wirklich Fuß fassen in einem Beruf. Selbst wenn die Umstände besser gewesen wären, hat sie immer wieder Probleme im Umgang mit Frauen. Und Männern, die von ihrer Erscheinung immer mehr angezogen wurden, als es ihr lieb war. Vielleicht auch ein Grund, weswegen sie sich in der schwulen Clubszene immer am wohlsten fühlt.
Dieses bunte Puzzle, welches Susan heißt, wird von Tim Lienhard mal schauspielerisch divenhaft, fast theaterartig neonfarben, mal roh, mal ganz pragmatisch in schwarz weiß dargestellt. Der Look der Dokumentation ist nicht nur ein schönes Abbild von ihr, zeitgleich spiegelt es auch Berlin wieder. Die Hauptstadt die ebenfalls tausend Leben lebt und leben lässt, aber keines davon ein zweites Mal. Stagnation wäre nicht nur für die Stadt fatal, auch für Susan unvorstellbar und unerträglich. Und so bleibt am Ende nur das Wissen, dass die Welt sich trotz allem weiterdreht und Susan ihr nächstes Leben lebt, um vielleicht ein weiteres Puzzelteil ihrer Persönlichkeit hinzuzufügen, das den nächsten Menschen, dem sie begegnet ebenfalls so fasziniert, beeindruckt und erstaunt, wie es die Dokumentation tat.
OT: „Character One: Susan“
Land: Deutschland
Jahr: 2018
Regie: Tim Lienhard
Kamera: Alexander Schmalz, Tim Lienhard
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