Ein junges Mädchen, nur in ein dreckiges Kleid gehüllt, offensichtlich ängstlich, verstört und verzweifelt, rennt über ein menschenleeres Industriegelände. Wenig später wird sie von einer Polizeistreife aufgelesen und in ein Krankenhaus gebracht. Die Ärzte stellen ein jahrelanges Martyrium körperlicher und seelischer Folter fest, welches das Mädchen durchleiden musste. In einem Waisenhaus, in dem Lucie (Mylène Jampanoï) fortan ihre Kindheit und Jugend verbringt, lernt sie Anna (Morjana Alaoui) kennen. Es entwickelt sich eine besondere Beziehung und Vertrauensbasis und Lucie kann zum ersten Mal über ihre Erlebnisse berichten. Fünfzehn Jahre später stehen die beiden Frauen mit einer Schrotflinte bewaffnet vor einem ländlich-abgelegenen Haus, bewohnt von einer vierköpfigen Familie, den vermeintlichen, ehemaligen Peinigern von Lucie. Doch wird die geplante Rache wird ihr weder Seelenfrieden bereiten, noch wird ihr Leidensweg damit vorüber sein. Und auch Anna wird Erfahrungen machen, die über die Grenze des Ertragbaren hinausgehen.
Martyrs ordnet sich dem New French Extremity der 2000er zu, einer Strömung, welche sich durch explizite Gewaltdarstellung auszeichnet. Der Fokus liegt dabei aber nicht auf aberwitzigen Blutfontänen, sondern in realistischer und gnadenloser Darstellung, ohne jeglichen humoristischen oder unterhaltsamen Unterton. Damit sorgten viele Filme dieses Genres für medialen Zündstoff und bescherten uns häufig mehrere Schnittfassungen, denen teilweise 10-20 Minuten an Filmmaterial „abhanden“ kamen. Auch Martyrs bildet hier keine Ausnahme, erteilte die FSK doch nur einer um ca. fünf Minuten gekürzte Fassung das „ab 18“-Siegel.
Viel mehr, als stumpfe Gewalt
Regisseur Pascal Laugier (Ghostland) beschränkt sich aber nicht nur darauf, den Zuschauer mit unerbittlicher Gewaltexposition zu schockieren oder Ekel in ihm hervorzurufen. Auch auf psychologischer Ebene versetzen einem die Bilder einen Schlag in die Magengrube. Wo der erste Abschnitt des Films noch nach einer bekannten Rachestory mit einigen interessanten Features anmuten lässt, wandelt sich der Film im weiteren Verlauf zu ritualisierter Folter und Erniedrigung, die sich bis zur Entmenschlichung steigert. Viele Szenen wecken im Zuschauer das Verlangen sich abzuwenden, eine Schwarzblende herbeizusehnen, da die Kamera oft unerträglich lange draufhält und dem Betrachter dadurch einiges abverlangt. Die Konsequenz, mit der Laugier die sich wiederholenden Misshandlungen und den Verfall der Protagonistin darstellt, sorgen für eine sich dermaßen zuspitzende und unangenehme Atmosphäre, dass sich selbst Liebhaber des Genres auf ein hartes Gesamtwerk einstellen sollten.
Mylène Jampanoï und Morjana Alaoui spielen ihre Rollen sehr stark. Mylène, als das ehemals verstörte und in sich gekehrte Mädchen, welches sich zu einer jungen, von Rache besessenen Frau entwickelt, die sich stets mit den Dämonen ihrer Vergangenheit konfrontiert sieht. Geplagt von Wut und Hass, Panik und Wahn, Angst und Schuld verkörpert sie diese psychisch gestörte Person par excellence.
Und Morjana, die das Durchleben eines unvorstellbaren Albtraums und die körperlichen wie seelischen Folgen mit einer solchen Authentizität verkörpert, dass es den Zuschauer in jeder Szene fassungsloser zurücklässt. Der Schmerz, die Erniedrigung, die Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und schlussendliche Resignation, all das vermag man als Zuschauer beinahe am eigenen Leibe zu spüren. Die psychologische Belastung fühlt sich dabei fast unerträglicher an als das körperliche Leid.
Getragen wird die bedrückende Stimmung zusätzlich von guter Tonarbeit. Die Soundeffekte klingen brachial, aber nie übertrieben und schaffen so eine zusätzliche Ebene der Immersion.
OT: „Martyrs“
Land: Frankreich, Kanada
Jahr: 2008
Regie: Pascal Laugier
Drehbuch: Pascal Laugier
Kamera: Stéphane Martin, Nathalie Moliavko-Visotzky
Musik: Alex Cortés, Willie Cortés
Besetzung: Mylène Jampanoï, Morjana Alaoui
Toronto International Film Festival 2008
Sitges 2008
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