Gerade in der heutigen Zeit wird das Konzept der Heimat gerne für populistische Zwecke genutzt, welche es als eine Art Schutzraum betrachten, dessen Werte und Ideen bitte vor fremden Einflüssen geschützt werden sollen. Abseits dieser restriktiven Betrachtungsweise der Idee von Heimat und Fremde werden wohl beide Begriffe diese Vereinnahmung der politischen Rechten überstehen, sind ihre Definitionen doch so vage und individuell, von Emotionen wie von geografischen Faktoren geprägt. Während eines USA-Aufenthaltes vollzog der schweizerische Schriftsteller Max Frisch beide Begriffe einer näheren Untersuchung, fragte in seinem Tagebuch sich selbst, ob man heimatlos werden könne oder ob Ideologie zu einer Heimat werden könne. Darüber hinaus setzte er sich auch mit dem Gefühl des Heimwehs auseinander und durch welche Faktoren dieses ausgelöst werden kann.
Das Gefühl, ein Beobachter in der eigenen Heimat zu sein, ist der chinesischen Regisseurin Yu Hao sehr bekannt. Als sie 2005 ins Appenzellerland zog, war dies für sie ein Schritt in die Fremde, aber auch an einen Ort, von dem sie sich angezogen fühlte, von seiner Landschaft, den Menschen und ihrer Kultur. Bis heute dreht sie Dokumentationen über das Appenzellerland und die Schweiz, führte Regie bei Theateraufführungen und ist zudem als Kuratorin im Haus Appenzell tätig. Ihren Annäherungsprozess an die Fremde, die zu einer zweiten Heimat wurde, beschreibt sie in ihrem 2019 entstandenen Film Plötzlich Heimweh.
Zwischen den Welten
Wenn man so will, beschreibt Yu Haos Film einen Prozess, fast schon eine Metamorphose. Durch Archivaufnahmen, die ihre ersten Begegnungen mit der Schweiz zeigen – damals noch im Dienste des chinesischen Staatsfernsehens –, blickt man mit der Regisseurin auf die Yu Hao von einst und beschreitet mit ihnen diese langsame Veränderung, aber auch dieses Ankommen an einem Ort, zu dem man sich aus zunächst vielleicht diffusen Gefühlen heraus angezogen fühlt. Ihre ersten Aufnahmen in der Schweiz, die Festtagsumzüge, Rituale, Trachten oder den Alltag eines Bauern zeigen, haben noch den Blick des Beobachters, eine Mischung aus Faszination und Distanz.
Interessant ist hierbei, wie Hao ihrem Zuschauer ihren Prozess der Veränderung durch den Blick der Kamera nahezubringen versucht. Immer wieder streifen die Blicke derer, die Hao filmt, auch den Zuschauer und man fragt sich, wie die Regisseurin selbst, wer hier eigentlich wen beobachtet oder studiert. Man versteht die Scheu vor dieser Fremde, aber auch die Sehnsucht dazuzugehören, ein Teil von etwas zu sein, doch zugleich die Einsicht, dass dieser Prozess der Assimilation nie ganz vollzogen werden kann. Doch vielleicht ist dies gar nicht notwendig.
Ein weiterer Punkt ist der Blick auf die eigene Heimat oder, besser gesagt, inwiefern die Fremde den Blick auf diese verändert. In vielen Einstellungen stellt Hao ihre beiden Heimaten gegenüber: auf der einen Seite die boomende Metropole und auf der anderen Seite die Routine und fast schon spirituelle Ruhe der Berge. Mit der Zeit erhält man als Zuschauer eine Ahnung von dem, was hier auf dem Spiel steht, denn was Yu Hao versucht, ist stets nahe am Scheitern wie auch am Gelingen. In diesem Sinne ist das Gefühl des Heimwehs auch eine Art des Triumphs.
OT: „Plötzlich Heimweh“
Land: Schweiz
Jahr: 2019
Regie: Yu Hao
Drehbuch: Yu Hao, Fabian Kaiser
Musik: Tobias Preisig
Kamera: Yu Hao, Zhao Kangcheng, Björn Lindroos
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