Als bekannt wurde, dass Barack und Michelle künftig für Netflix Titel produzieren würden, war die Neugierde groß, welche Geschichten der ehemalige US-Präsident und seine First Lady wohl erzählen würden. Ein reiner PR Coup oder doch etwas mit Substanz? Wenn der Auftakt American Factory repräsentativ sein sollte, dann wird eindeutig Letzteres der Fall sein. Denn der Dokumentarfilm nimmt ein Thema, das zwar dem Titel entsprechend amerikanisch ist, aber doch symptomatisch steht für eine Welt, die im Wandel ist. Ein Wandel, dessen Ende wir kaum vorhersehen können, der uns jedoch jetzt schon einiges abverlangt.
Die trügerische Hoffnung
Schauplatz ist eine Fabrik in einem kleinen Vorort in Ohio. Dort ließ General Motors einst Autos zusammenbauen, bis die Anlage 2008 dicht machte. Einige Jahre später kam neue Hoffnung auf, als das chinesische Unternehmen Fuyao die Fabrik übernahm, um dort Autoglas herzustellen. Für die Einwohner des Ortes war die Nachricht ein Geschenk, endlich wieder Arbeit und Perspektive! Bald mussten sie jedoch erkennen, dass Arbeit zwar tatsächlich reichlich vorhanden war, Geld jedoch wenig, Rechte überhaupt nicht. Die Chinesen hatten einfach die Arbeitsbedingungen aus ihrem Heimatland importiert und in der Fabrik eingesetzt, zum Entsetzen der lokalen Bevölkerung.
American Factory, das ist die Geschichte von zwei verschiedenen Weltsichten, die aufeinanderprallen. Von Unternehmenskulturen, die sich gegenüberstehen und kaum miteinander vereinbaren lassen. Der Versuch der Angestellten, eine Gewerkschaft zu gründen, die stößt bei den neuen Besitzern aus wenig Gegenliebe. Im Gegenteil: Fuyao versucht dies unter allen Umständen zu verhindern, mit teils sehr fragwürdigen Mitteln. Beispielsweise wurden Unternehmensberater in die Diskussionsrunden geschickt, die verschwiegen, dass sie von der Firma bezahlt wurden und ein vorgegebenes Ziel verfolgten. Später werden Sympathisanten der Gewerkschaft einfach gefeuert – eine rabiate, aber überaus effektive Methode, um den Gegner klein zu halten.
Ja, und?
Das Regieduo Steven Bognar und Julia Reichert, welches die Schließung der General Motor Fabrik in dem Dokumentarfilm The Last Truck: Closing of a GM Plant begleitet hatte, bezieht bei diesem Duell nicht direkt Position. Abgesehen von den späten Texteinblendungen, die einen globalen Bezug zum Thema herstellen, überlassen sie es den Angestellten und dem Publikum, zu einem Schluss zu kommen. Dabei verzichten die beiden weitestgehend auf direkte Interviewszenen. Stattdessen begleiten sie einfach die Menschen bei ihrer Arbeit, bei Versammlungen oder sonstigen Aktivitäten, so als wären sie gar nicht da. Es ist sogar bemerkenswert, wie nahe die zwei an alles herankamen und selbst Szenen festhalten durften, die wenig schmeichelhaft sind für die Chinesen.
Andererseits ist das auch ein wenig der Punkt: Dort gilt es als selbstverständlich, an den Wochenenden zu arbeiten, Zwölfstundenschichen zu fahren, sich aufzuopfern, ohne viel dafür zu bekommen. Ein Rädchen im Kollektiv zu sein, das ist keine Schande, sondern Teil es uns fremden Selbstverständnisses. Der oscarprämierte Dokumentarfilm, der beim Sundance Film Festival 2019 Premiere hatte, zeigt auf engem Raum die Unterschiede der beiden Kulturen. Darüber hinaus zeigt er aber auch, wie Arbeiter weltweit unwichtiger werden, wie ersatzbar sie geworden sind. Das Auseinanderbrechen von Gesellschaften, die Rücknahme von früher erkämpften Errungenschaften, das ist ein Trend, der nicht nur in amerikanischen oder chinesischen Fabriken zu beobachten ist. American Factory ist ein spannender, nachdenklich stimmender, irgendwo auch desillusionierender Blick auf die Arbeitswelt von heute und ein Abgesang auf das, was wir früher damit verbunden haben.
OT: „American Factory“
Land: USA
Jahr: 2019
Regie: Steven Bognar, Julia Reichert
Musik: Chad Cannon
Kamera: Steven Bognar, Aubrey Keith, Jeff Reichert, Julia Reichert, Erick Stol
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Academy Awards | 2020 | Beste Dokumentation | Sieg | |
BAFTA Awards | 2020 | Beste Dokumentation | Nominierung | |
Film Independent Spirit Awards | 2020 | Beste Dokumentation | Sieg |
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