Eigentlich wollte er ja einen Kinofilm zum Thema drehen, am Ende reicht es dann aber doch nur für ein Theaterstück. So oder so, für Paul (Thilo Prothmann) steht fest, dass er die Geschichte um jüdische Menschen, die 1939 mit dem Kreuzfahrtschiff St. Louis nach Kuba flüchten wollten, unbedingt erzählen muss. Schließlich ist dies auch die Geschichte seines Großvaters. Andere sind nicht ganz so enthusiastisch, was den Stoff angeht. Wer soll sich denn heute noch dafür interessieren? Während das Team immer wieder darum streitet, was der richtige Zugang ist, holt Moah (Daniel Zimmermann), einer der Schauspieler, noch ein paar afrikanische Migranten hinzu und macht damit das Chaos perfekt …
Im Kino sind mal wieder Themenwochen angesagt. Zumindest ist es auffällig, dass innerhalb von kurzer Zeit wieder eine Reihe von Werken in unsere Lichtspielhäuser strömen, die sich irgendwie um das Thema Flucht drehen. Während der preisgekrönte Dokumentarfilm Für Sama eindringlich aufzeigte, warum es selbst die patriotischsten Syrer und Syrerinnen nicht mehr in ihrer Heimat aushalten, erzählte der Familienfilm Zu weit weg von zwei Jungs, die beide in der Fremde ein neues Leben aufbauen müssen und sich dabei anfreunden – als Leidgenossen. Dritter im Bunde ist Alle in einem Boot, das zuvor auf Festivals lief und nun eine reguläre Kinoauswertung erfährt.
Das kennen wir doch schon …
Der Zugang ist hier jedoch ein anderer. Regisseur und Drehbuchautor Tobias Stille, sonst eigentlich im TV-Bereich zu Hause, nutzt lieber einen Verweis auf das Historische, um die Gegenwart begreifbar zu machen. Genauer zeigt er, wie deutsche Juden während des Dritten Reiches das Land verlassen mussten, verlassen wollten, weil ihnen sonst der sichere Tod drohte. Dabei braucht es nicht einmal eine besondere Transferleistung, die Querverbindungen sind kaum subtil. Im Gegenteil: Es wird offen darüber diskutiert, dass sich das doch alles ziemlich ähnelt. So offen, dass es fast schon aufdringlich wird.
Um eine direkte Überstellung der jeweiligen Szenarien handelt es sich bei Alle in einem Boot derweilen nicht, weder auf die Bevölkerung noch die Diktatoren bezogen. Vieles hier hat dann doch eher einen ganz universellen Anstrich. Stille ist mehr daran interessiert, wie sich die Menschen in solchen Situationen verhalten. Wie viel Hilfsbereitschaft steckt in ihnen? Wann wird die Angst vor dem Fremden zum Rassismus? Ist jeder Fall irgendwie anders oder gibt es doch gemeinsame Linien, die irgendwann zum Vorschau kommen?
Über alle Grenzen hinweg
Das hört sich vielleicht nach verkopftem Experiment an. Lässt man sich aber erst einmal auf dieses doppelte Spiel ein und hat den recht direkten Einstieg überstanden, entfaltet Alle in einem Boot tatsächlich einen ganz eigenen Reiz. Gerade die Vermischung der Zeitebenen, wenn die Schauspieler und Schauspielerinnen so sehr in ihren Rollen aufgehen, dass man nicht mehr weiß, ob wir im Stück oder im Alltag sind, führt zu einigen spannenden Szenen. Beeinflussen die Figuren die Darsteller? Ist es umgekehrt? Ist die Interpretation des Stoffes Ausdruck von der gegenwärtigen Situation? Ein Ventil für das, was vorher schon da war?
Streckenweise ist das auch amüsant. Vergleichbar zu anderen Behind-the-Scenes-Geschichten aus künstlerischen Bereichen – etwa Casting oder Golden Twenties – wird das geplante Theaterstück zur Bühne wettstreitender Egos, die jeder für sich eine Führungsrolle in Anspruch nehmen. Das kann mal absurd werden, geradezu bescheuert, wenn ein lächerlicher Vorschlag nach dem anderen das Schiff zu torpedieren droht. Dann und wann schleicht sich aber auch eine tragische Note hinein, die Sehnsucht nach Anerkennung und Selbstbestimmung, der Kampf um die eigene Relevanz – und sei es nur, indem die Figur überlebt, die man gerade verkörpert.
OT: „Alle in einem Boot“
Land: Deutschland
Jahr: 2019
Regie: Tobias Stille
Drehbuch: Tobias Stille
Musik: Marc Sinan Baute
Kamera: Mathis Hanspach
Besetzung: Thilo Prothmann, Christof Düro, Kathleen Gallego-Zapata, Hassan Kello, Theo Kircher, Frank Kloft, Stephanie Marin, Zeinhab Molhani, Johannes Moss, Andreas Müller, Daniel Zimmermann
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