Tiuri (Yannick van de Velde), Sohn des Ritters Tiuri des Tapferen, ist keine zwölf Stunden von der Erfüllung seines Lebenstraumes entfernt: Hält er gemeinsam mit weiteren Schildknappen in der alten Kapelle still die Nachtwache, wird er am nächsten Morgen zum Ritter geschlagen. Das wäre weiter nicht schwierig, doch als plötzlich ein Fremder von außen verzweifelt nach Hilfe bettelt, bricht Tiuri das den Anwärtern auferlegte Verbot und öffnet die Türe. Der Fremde entpuppt sich als Schildknappe des edlen Ritter Edwinems (Gijs Scholten van Aschat) und vertraut Tiuri einen wichtigen Brief für eben jenen Ritter an. Tiuri bricht auf, doch muss bald feststellen, dass Edwinem Opfer eines feigen Hinterhalts wurde. Nun muss sich der junge Bursche auf die weite und beschwerliche Reise zum König des Nachbarlandes begeben. Scheitert seine Mission, wird großes Unheil über beide Länder hereinbrechen …
Als Der Brief für den König von Tonke Dragt 1962 veröffentlicht wurde, hatte vermutlich nicht einmal sie selbst damit gerechnet, was für ein beliebter und erfolgreicher Klassiker es werden würde. 2004 schließlich wurde es in den Niederlanden gar als bestes Jugendbuch der letzten 50 Jahre ausgezeichnet. Bei weltweit über einer Millionen verkaufter Exemplare war es nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand die Filmrechte sicherte. Vielleicht lag es ja am zwei Jahre zuvor erschienenen und missratenen Eragon – Das Vermächtnis der Drachenreiter, dass der Stoff nicht nach Hollywood verkauft, sondern 2008 als deutsch-niederländische Ko-Produktion realisiert wurde – also mehr als ein Jahrzehnt vor der aktuellen Netflix-Serie.
173 Auftritte als Schauspieler listet die IMDb für Uwe Ochsenknecht. Der schieren Anzahl zum Trotz ist sich schwerlich des Eindrucks zu erwehren, dass die deutsche Filmlandschaft bereits bei der Veröffentlichung von Der Brief für den König seit vielleicht anderthalb Dekaden oder noch länger lediglich Varianten ein und derselben Figur für den Mimen bereitzuhalten wusste. Da lässt sich leicht vergessen, was für ein Talent als Charakterdarsteller in Ochsenknecht schlummert. Auf dem Papier ist er eine kolossale Fehlbesetzung für Rafox, den strengen Burgherrn. Großgewachsen, breitschultrig, rot- und langhaarig, heißt es in der literarischen Vorlage. Dass ein Schauspieler nicht optisch „korrekt“ besetzt wird und niemals deckungsgleich mit den Vorstellungen aller Leser oder auch nur der eines einzelnen zu hundert Prozent übereinstimmen kann – geschenkt.
Die charakterlichen Eigenschaften sind es, die auf die Leinwand gebannt werden sollen. Streng ist Rafox, mit harter Hand durchgreifend, unnahbar und doch gerecht. Dass ausgerechnet Ochsenknecht das hervorragend verkörpert, das konnte nicht zu erwarten sein. Alles Weiche ist aus seinem Gesicht verschwunden, das ist nicht der leicht trottelige Kumpeltyp, der einem aus jedem dritten deutschen Film selbstherrlich entgegenlacht. Das ist ein Schauspieler von potenziellem Weltformat. Während Rafox im fast 500 Seiten umfassenden Buch durchaus eine häufiger auftretende Schlüsselfigur ist, taucht er im naturgemäßg stark gekürzten Film kaum auf, weshalb so schnell wohl leider keine weitere ernste Rolle für Ochsenknecht in Aussicht steht.
Eine eigene Interpretation des Stoffes
Auch der restliche Cast hat damit zu kämpfen, dass den Figuren kaum Platz zur Verwirklichung eingeräumt wird. Yannick van de Velde hat diesbezüglich als Hauptrolle noch das beste Los gezogen, die Figur des Tiuri entfaltet sich merklich, reift. Der kleine Schildknappe entwickelt sich im Laufe der Handlung zum Ritter – zumindest innerlich. Die Auflösung, ob Tiuri am Ende auch wirklich den Ritterschlag erhält oder sich diese Ehre durch die Missachtung des Gebots verspielt hat, soll dem Film überlassen bleiben. Selbst wer das Buch gelesen hat, sollte sich nicht allzu sicher sein, da Regisseur Pieter Verhoeff sich gerade gegen Ende einige Abweichungen zur Vorlage erlaubt. Generell jedoch versucht der Film zu viel der Originalhandlung in zu wenig Zeit zu pressen. Es ist eher ein gehetztes Ablaufen der Stationen im Buch, ein ärgerliches Phänomen vieler Kinder- und Jugendbuchverfilmungen, das sich beispielsweise auch in den ersten beiden Harry Potter-Filmen beobachten ließ.
Noch schwerwiegender als die Mängel des Drehbuchs wirken jedoch die der Optik und Atmosphäre. Der Brief für den König sieht zu oft aus, als hätte man ein paar (fraglos ambitionierte) Studenten irgendwo ins Grüne geschickt, um eine LARP-Session für ihren YouTube-Kanal abzufilmen. Mit knapp sieben Millionen Euro lässt sich ein Mittelalterepos natürlich nicht sonderlich bildgewaltig umsetzen (das große Hollywoodgeld wäre hier gut angelegt gewesen); auch deshalb hätten Handlungelemente gestrichen und Schauplätze reduziert werden und dafür beeindruckender inszeniert werden sollen.
OT: „De brief voor de koning“
Land: Deutschland, Niederlande
Jahr: 2008
Regie: Pieter Verhoeff
Drehbuch: Maarten Lebens, Pieter Verhoeff
Vorlage: Tonke Dragt
Musik: Paul M. van Brugge
Kamera: Jules van den Steenhoven
Besetzung: Yannick van de Velde, Quinten Schram, Rüdiger Vogler, Lars Rudolph, Uwe Ochsenknecht
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