„Stockwerk 48, das ist ein gutes Stockwerk“ – sagt der ältere Mann (Galder Gaztelu-Urrutia) von seinem Bett herüber. Und er muss es wissen, hat er doch schon viele Stockwerke durchgemacht, von ganz oben bis ganz unten. Goreng (Ivan Massagué) reicht die Antwort jedoch nicht, will mehr wissen, viel mehr. Woher kommen die Menschen, die übereinander in der Schachtanlage wissen und jeden Monat das Stockwerk wechseln müssen? Was ist Sinn und Zweck der zellenähnlichen Stockwerke, ohne Fenster, ohne Außenwelt? Doch diese Fragen werden bald zur Nebensache, als es zum Thema Essen kommt. Denn in jedem Stockwerk kommt nur das Essen an, das die oberen übrig lassen – was rapide abnimmt, je weiter unten man ist …
Dass die Schere zwischen arm und reich immer größer wird, das ist nicht gerade ein Geheimnis, das ist längst im kollektiven Bewusstsein angekommen. Da macht es dann auch (fast) keinen Unterschied mehr, wo genau man lebt, nahezu jede Gesellschaft hat damit zu kämpfen, die eine mehr, die andere weniger. Diese Entwicklung wird auch gerne in Filmen wieder aufgegriffen. Das kann mal in eine realistischen Form geschehen, andere ziehen eventuell eine dystopische Fassung der Ereignisse vor. In Snowpiercer wurde diese Trennung mithilfe eines Zuges verbildlicht: Die Reichen wohnen vorne, die Armen hinten. In High-Rise tauschte man die Horizontale gegen die Vertikale. Hier war es ein Hochhaus, in dem Mächtigen und Vermögenden auf den Rest herabblicken konnten. In mehr als einer Hinsicht.
Unmissverständliche Verteilungskämpfe
Der Schacht geht nun prinzipiell in eine ähnliche Richtung. Der spanische Mystery-Thriller, der auf dem Toronto International Film Festival 2019 Premiere feierte und nun dank Netflix weltweit erhältlich ist, übernimmt dieses Prinzip der räumlichen Trennung. Er treibt das Ganze aber noch auf die Spitze. Während es in der realen Welt im übertragenen Sinne um die Reste geht, welche die Oberen den Unteren übrig lassen, ist das hier wortwörtlich. Einmal im Tag passiert eine gedeckte Tafel alle Stockwerke. Was zu Beginn noch üppig gefüllt ist, mit den unterschiedlichsten Speisen, wird immer weniger, weil sich jeder in der kurzen Zeit, die er hat, den Bauch vollschlägt, ohne Rücksicht auf die, die danach kommen. Würde jeder an einem Strang ziehen, nur so viel essen, wie er wirklich braucht, würde das Angebot für alle reichen. Macht aber praktisch niemand.
Als Symbol für das, was da draußen vor sich geht, ist das ungewöhnlich, jedoch sicherlich nicht subtil. Der Schacht riskiert erst gar nicht, dass das Publikum übersehen könnte, was genau mit der mobilen Plattform gemeint ist. Tatsächlich interessant wird das Prozedere aber durch eine Gemeinheit, welche sich das Drehbuchteam ausgedacht hat: Die Menschen wechseln jeden Monat das Stockwerk. Wer im einen Moment an der Spitze war, kann im nächsten am unteren Ende der Nahrungskette aufwachen – und umgekehrt. Das ist nicht nur eine nette Verballhornung der Annahme, dass die Leute an der Spitze sich ihr besseres Schicksal irgendwie verdient haben. Vielmehr ist es reines Glück, weshalb manche es im Leben schaffen, andere nicht.
Die Auswirkungen der Not
Vor allem aber nutzt Der Schacht diese Konstellation als eine Art soziales Experiment. Wie gehen Menschen damit um, wenn sie zu viel oder zu wenig Essen haben? Wie werden sie diese Erfahrungen beim nächsten Wechsel einsetzen? Zeigen sie mehr Verständnis für die weniger Glücklichen? Handeln sie im Gegenteil noch rücksichtsloser als zuvor? Viel Hoffnung macht einem der Film in der Hinsicht nicht, selten war der Ausblick auf die Gesellschaft derart ernüchternd, gar erschreckend. In Zeiten der Not bleibt für Anstand wenig Raum, jeder ist sich im Zweifel selbst der nächste – was unangenehme Parallelen zu den derzeitigen Reaktionen in der Corona-Krise aufdeckt.
Dabei ist der Film keine verkopfte Angelegenheit. Man kann sich hier auch als Genrefan erfreuen. Tatsächlich ist Der Schacht eine Mischung aus den oben genannten Dystopien mit dem surrealen Horror von Cube. Soll heißen: Hier geht es ordentlich zur Sache, während gleichzeitig auf engstem Raum über das Mysterium der Anlage nachgegrübelt wird. Wurden erst einmal alle inhaltlichen Punkte auf den Tisch gepackt, stagniert der Film ein wenig, auch wenn dies mit einer psychologischen Komponente und steigender Brutalität verhindert werden soll. Insgesamt sind die rund anderthalb Stunden aber recht spannend, halten mit einigen unvorhergesehenen Wendungen bei Laune und lassen – wie bei solchen Werken üblich und erwünscht – das Publikum darüber nachgrübeln, wie es sich selbst verhalten würde, innerhalb wie außerhalb des Schachtes.
OT: „El Hoyo“
IT: „The Platform“
Land: Spanien
Jahr: 2019
Regie: Galder Gaztelu-Urrutia
Drehbuch: David Desola, Pedro Rivero
Musik: Aránzazu Calleja
Kamera: Jon D. Domínguez
Besetzung: Ivan Massagué, Zorion Eguileor, Antonia San Juan, Emilio Buale, Alexandra Masangkay
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Europäischer Filmpreis | 2020 | Visual Effects Supervisor | Iñaki Madariaga | Sieg |
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