Eigentlich könnte Markus (Max Riemelt) jede Frau haben, die er will. Der 29-Jährige sieht gut aus, ist charmant und freundlich, arbeitet erfolgreich als Architekt. Das Problem ist nur: Er will eigentlich keine Frau. Stattdessen fühlt er sich zu kleinen Jungs hingezogen – wovon aber niemand etwas wissen darf, was er selbst auch auf keinen Fall zulassen will. Und doch wird sein Begehren immer stärker, er beginnt heimlich Kinder zu fotografieren und Bilder zu sammeln. Als nebenan die alleinerziehende Mutter Jessica (Isabell Gerschke) mit ihrem achtjährigen Sohn Arthur (Oskar Netzel) einzieht und sich für Markus interessiert, kann dieser immer weniger seine Gefühle unter Kontrolle halten, es droht die Katastrophe …
Ist das nun mutig oder kontraproduktiv? Nach Jahren des Schweigens ist im Rahmen der #MeToo-Bewegung endlich die Möglichkeit entstanden, dass Missbrauchsopfer über ihre Erfahrungen sprechen können, ohne gleich verurteilt oder angegriffen zu werden. In einer solchen Zeit einen Film aus der Sicht eines Täters zu drehen, seine Perspektive zu schildern, da darf man schon einmal verblüfft sein. Mindestens. Denn das lässt vermuten, dass hier jemand relativieren möchte, entschuldigen, kleinreden, umso mehr, wenn die Figur auch noch sympathisch besetzt ist. Doch Kopfplatzen ist anders, weniger eindeutig, macht es letztendlich beiden Seiten ausgesprochen schwierig, sich positionieren zu wollen.
Der Kampf gegen eigene Neigungen
Ein großer Unterschied zu den menschlichen Raubtieren, um die es oft beim Thema Missbrauch geht: Markus will kein Täter sein. Er redet sich seine Neigung nicht schön, will sie überhaupt nicht, sucht sogar Hilfe, um sie loszuwerden. Nur schafft er es nicht. Weil er es gar nicht schaffen kann: Die schockierendste Szene in Kopfplatzen ist ein Gespräch mit einem Psychologen, der Markus klipp und klar sagt, dass es keine Heilung gibt für Pädophilie. Es gibt höchstens Mechanismen, mit der Situation umzugehen, etwa sich sicher Gefahren bewusst zu werden. So wie ein früherer Alkoholiker, der sich dagegen entscheiden kann, zur Flasche zu greifen, damit aber nicht den inneren Drang als solchen loswird.
Regisseur und Drehbuchautor Savaş Ceviz, der hier sein Spielfilmdebüt drehte, wagt auf diese Weise eine besonders heikle Balance. Er will weder die Neigung noch eventuelle Taten gutheißen. Im Gegenteil: Besagter Psychologe betont mehrfach, dass es ein Verbrechen wäre, den Neigungen nachzugehen, und die Verantwortung trotz allem beim Täter liegt. Gleichzeitig will er nicht verteufeln. Der natürliche Reflex der meisten, einen Pädophilen als Perversen abzustempeln, der öffentlich geächtet werden muss, am besten gleich eingesperrt, gerecht ist er nicht. Er ist auch nicht hilfreich, vor allem in Situationen, in denen Betroffenen geholfen werden müsste. Denn je mehr ein solcher Mensch ausgestoßen wird, umso größer ist die Gefahr, dass er den Halt verliert.
Der freundliche Kranke von nebenan
Die Besetzung mit Max Riemelt ist hier ausgesprochen clever. Ein sympathischer, attraktiver und freundlicher Mann, das entspricht so gar nicht dem bekannten Bild des Kinderschänders und zwingt das Publikum dazu, sich der Geschichte anzunähern, ob es nun will oder nicht. Dass der Schauspieler keine Probleme damit hat, sein Sonnyboy-Image zuweilen anderweitig einzusetzen, das hat er mehrfach bewiesen, beispielsweise in Berlin Syndrom. Darin spielte er einen zuvorkommenden, emotional jedoch tief gestörten Lehrer, der eine Frau als Gefangene hält und dabei nicht merkt, was er tut. Das ist bei Markus natürlich anders, dessen moralischer Kompass zwar zunehmend unzuverlässig wird, grundsätzlich aber funktioniert. Riemelt zeigt diesen Zwiespalt dann auch eindrucksvoll, wenn Momente des Glücks und solche des Selbsthasses nahtlos ineinander übergehen, mit dem zunehmenden Verlust der Kontrolle auch äußerst destruktive Tendenzen zum Vorschein treten. Ein Lächeln verbergen soll, wie sich jemand innerlich zerfleischt.
Es wäre ein leichtes gewesen, diese Szenen ausschlachten zu wollen oder das Publikum in eine bestimmte Richtung zu manipulieren. Glücklicherweise tut Ceviz dies jedoch nicht, er bleibt auf Distanz, wertet nicht. Geradezu unterkühlt ist Kopfplatzen, das bei den Hofer Filmtagen 2019 Deutschlandpremiere hatte, mit vielen Grautönen – so wie auch inhaltlich vieles in Grau gehalten ist. Etwas unglücklich ist deshalb auch das schon sehr aufdringliche Symbol des eingesperrten Wolfes, das es so nicht gebraucht hätte, schon gar nicht in der Häufigkeit. Und auch bei der obligatorischen dramatischen Zuspitzung zum Ende hin hätte es sicherlich weniger konstruierte Alternativen gegeben, die besser zu dem sonst dokumentarisch anmutenden Film gepasst hätten. Aber trotz dieser Einschränkungen: Das Drama ist gleichermaßen packend wie fordernd, zwingt uns mit einem Gedanken auseinanderzusetzen, den wir gar nicht in unserem eigenen Kopf haben wollten – so wie es eben auch Markus ergeht.
OT: „Kopfplatzen“
Land: Deutschland
Jahr: 2019
Regie: Savaş Ceviz
Drehbuch: Savaş Ceviz
Musik: Jens Südkamp, Savaş Ceviz
Kamera: Anne Bolick
Besetzung: Max Riemelt, Oskar Netzel, Isabell Gerschke
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