Wer anderen erzählen möchte, wie das früher so war, wie sich das anfühlte, wie man etwas erlebt hat, der stößt schnell an seine Grenzen – ohne es vielleicht zu merken. Es ist nicht allein das Gedächtnis, welches einem an der Stelle einen Strich durch die Rechnung machen kann, weil es manche Sachen verloren hat oder so sehr abgeändert, dass nicht mehr viel vom Original übrig blieb. Hinzu kommt: Je mehr Zeit seit den Ereignissen vergangen ist, umso mehr hat man sich seither verändert. Das ist einerseits gut, eine persönliche Weiterentwicklung ist grundsätzlich zu begrüßen. Aber wie will man glaubhaft die Erfahrung einer Person wiedergeben, die man gar nicht mehr ist?
Das ist nur eines der vielen Themen, die Ulrike Ottinger in Paris Calligrammes anspricht, mit Humor, gar Selbstironie, aber auch einem scharfen Blick. In den 60ern suchte sie in Paris eine neue Heimat, wie so viele, die sich Hoffnung auf eine künstlerische Laufbahn machten. Die deutsche Künstlerin eignete sich dort neue Techniken an, machte wertvolle Bekanntschaften, beispielsweise die von Fritz Picard, dessen Librairie Calligrammes zu einem wichtigen Treffpunkt von Künstlern und Künstlerinnen wurde, zu einem Hort zahlreicher literarischer Schätze obendrein.
Zwischen gestern und morgen
Was aus diesen geworden ist, mehr als fünf Jahrzehnte später, darüber schweigt sich der Dokumentarfilm zwar aus. Er vermittelt aber ein Gefühl dafür, wie inspirierend dieser Ort gewesen sein muss, der ein Bewahrer der Vergangenheit war – viele Bücher stammten von Juden, die im Zweiten Weltkrieg geflohen waren –, gleichzeitig aber auch Aufbruch für neue Begegnungen und Strömungen. Denn da war jede Menge los in den 1960ern, wie Ottinger zu erzählen weiß, sowohl innerhalb der Künstlerkreise wie auch da draußen auf den Straßen. Eine Zeit des Umbruchs, notfalls auch der Gewalt.
Paris Calligrammes, das auf der Berlinale 2020 Premiere feierte, kombiniert dabei historische Aufnahmen mit Erzählungen Ottingers. Gesellschaftspolitische Ereignisse und künstlerische Strömungen trafen aufeinander, große Künstler und Künstlerinnen, oft mit Migrationshintergrund, machten sich auf, die Grande Nation, teils die Welt zu erobern, mit Chansons und Büchern, mit Bildern oder Gedanken. Der Existenzialismus hatte noch immer etwas zu sagen, während im Algerienkrieg oder bei den Studentenrevolten für ein besseres Leben gekämpft wurde, frei von den Fesseln der Vergangenheit.
Persönlich und doch universell
All das prägte Ottinger, die hier ihre Prägungen offenlegt, ohne dabei aber selbstverliebt die Welt auf sich selbst zu reduzieren. Sie mag im Mittelpunkt stehen, als Beobachterin und Kommentatorin. Aber sie ähnelt dabei eher einer Reiseführerin, die mal hierhin zeigt, mal dorthin, mit kleinen Anekdoten das Publikum zu unterhalten versucht, während wir an Orten und Menschen vorbeifahren, tiefer eintauchen in die Geschichte von Stadt und Leuten.
Das gelingt ihr sehr gut, Paris Calligrammes fesselt sowohl als persönliches Tagebuch einer künstlerischen Entfaltung wie auch als Zeitporträt. Ein bisschen Geduld sollte man zwar schon aufbringen, die Laufzeit von über zwei Stunden ist für einen Dokumentarfilm ungewöhnlich lang. Ist diese jedoch vorhanden, sowie der Wille, sich auf diese Reise einzulassen, der findet unterwegs zahlreiche Schätze, die andere zurückgelassen – egal ob nun in gedruckter oder anderweitiger Form.
OT: „Paris Calligrammes“
Land: Deutschland, Frankreich
Jahr: 2020
Regie: Ulrike Ottinger
Kamera: Ulrike Ottinger
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