Tief in der verschneiten Landschaft Sibiriens betreibt Clint (Willem Dafoe) eine kleine Bar, zu der sich gelegentlich ein paar Durchreisende verirren. Über die Jahre hat sich Clint so etwas wie ein Leben in der Einsamkeit aufgebaut, geht mit seinen Schlittenhunden auf die Jagd und erzählt ein wenig mit den Besuchern seiner Bar, auch wenn er deren Sprache meist nicht beherrscht. Wenig weiß man über den Hintergrund für seine Isolation, doch wirklichen Frieden hat Clint nicht gefunden, wird immer wieder geplagt von Erinnerungen an die Vergangenheit, an seine Ehe, seine Beziehung zu seinem Vater und darüber hinaus sein Verhältnis zu seinem Sohn, den er schon seit Langem nicht mehr gesehen hat. Nach einer Reihe von geradezu albtraumhaften Visionen beschließt er sich seinen sprichwörtlichen Dämonen zu stellen. In der kargen Landschaft Sibiriens nimmt er Kontakt zu seiner Vergangenheit auf, findet einen Weg zu der Person, die er früher war und wird mit einer ungeheuren Schuld konfrontiert.
Spiegel des Selbst
Wie Regisseur Abel Ferrara bereits im Interview mit film-rezensionen sagte, sieht er es nicht als seine Aufgabe an, in seinen Filmen, wahrscheinlich wegen deren persönlichen Natur, Lösungen zu präsentieren. Vielmehr geht es ihm, wie schon in seinem letzten Film Tommaso und der Tanz der Geister, darum, sich treiben zu lassen, so wie es das Leben letztlich auch mit uns macht. Da beide Filme ungefähr zur gleichen Zeit produziert wurden und im Falle von Tommaso sogar ein direkter Verweis zu Siberia enthalten ist, ergeben sich solche thematischen Parallelen wahrscheinlich von selbst, sind doch beide letztendlich Geschichten über unser Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte, zur unserer Vergangenheit und unser gespaltenes Selbst. Fokussierte sich Tommaso noch verstärkt auf die Figur des Künstlers, ist der Ansatz in Siberia mehr universeller Natur.
Davon ausgehend überrascht es wenig, wenn alleine schon die Inhaltsangabe im Falle von Siberia schwerfällt. Die etwas über 90 Minuten Laufzeit reißen viele Themen und Zusammenhänge an, andere auf philosophischer Ebene, andere wiederum berühren Aspekte wie Glauben und Spiritualität. Auch das Niveau dieser Anspielungen bleibt unterschiedlich, denn während die gelungenen Passagen des Films an Werke wie Andrei Takowskis Der Spiegel erinnern, haben andere die thematische Tiefe eines Paolo Coelho-Romans und sind schwer auszuhalten.
Zu den wirklich gelungenen Teilen des Films zählt das an sich noch recht linear erzählte Segment in Sibirien. Das wie immer tolle Spiel Dafoes trägt dazu bei, dass vieles um seinen Charakter Clint im Verborgenen bleibt, angedeutet wird und der Vorstellung des Zuschauers überlassen wird. Dennoch ist dies eine Figur, die eine Dunkelheit mit sich trägt, die sich zeigt in seinen Visionen und Albträumen sowie seinen langen Momenten des Schweigens, in denen meist die Dämonen seiner Erinnerung die Oberhand gewinnen. Interessant sind dabei beispielsweise die Begegnung mit dem eigenen Vater, ebenfalls von Dafoe verkörpert, dessen Angel- und Jagdausflüge mit dem damals noch jungen Clint, von denen er anfangs per Voice-over berichtet, so etwas wie die Rahmenhandlung oder den metaphorischen Kern Siberia bilden.
Vergangene Landschaften
Ähnlich wie das Rom in Tommaso ist auch das Sibirien in Siberia eine symbolische Landschaft. Der häufige Einsatz von entsprechenden Kamerafiltern betont diese unwirkliche Atmosphäre der Bilder, das Traumhafte wie auch die Dunkelheit, die eben jenen Konflikt widerspiegeln, welcher sich in der Hauptfigur abzeichnet. In langen Panoramaaufnahmen gleitet Stefano Falivenes Kamera über die Berge, Flüsse und Täler, und deutet den Zwiespalt, die innere Zerrissenheit an, während sich Bilder voller Schönheit und surreal-verstörende Momente ablösen.
OT: „Siberia“
Land: Italien, Deutschland, Mexiko
Jahr: 2020
Regie: Abel Ferrara
Drehbuch: Abel Ferrara, Christ Zois
Musik: Joe Delia
Kamera: Stefano Falivene
Besetzung: Willem Dafoe, Dounia Sichov, Simn McBurney, Christina Chiriac, Anna Ferrara
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