Groß ist die Begeisterung ja nicht, als der 13-jährige Thomas (Louis Vazquez) raus aufs Land geschickt wird, um den Sommer mit seinem Vater Christian (Jean-Paul Rouve) zu verbringen. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass der in so komischen Klamotten rumläuft und sich nur für seine Gänse interessiert. Es gibt auch nichts, was man dort in der Einöde machen könnte. Nicht einmal vernünftig Internet hat man hier! Eher widerwillig lässt sich Thomas daraufhin für das Projekt von Christian einspannen: Sie ziehen Gänse auf, die später einmal lernen sollen, allein von Norwegen in den Süden zu fliegen und zurück. Und je mehr Zeit der Jugendliche mit den Vögeln verbringt, umso stärker wachsen sie ihm ans Herz …
Ein Junge, der mit Wildgänsen unterwegs ist: Da muss man ja praktisch zwangsläufig an Nils Holgersson denken, der durch einen Roman von Selma Lagerlöf sowie diverse Adaptionen, darunter eine Animeserie in den 1980ern, weltbekannt wurde. Der Parallele zwischen Der Junge und die Wildgänse und dem Buch ist man sich hier natürlich bewusst. Mehr noch: Sie wird direkt angesprochen. Um eine weitere Verfilmung des Klassikers handelt es sich bei der französischen Produktion jedoch nicht. Vielmehr steht eine wahre Geschichte Pate, auch wenn die stark abgewandelt und um andere Elemente erweitert wurde.
Aus Liebe zur Natur
Tatsächlich hat es den Jungen nie gegeben, im Mittelpunkt der Ereignisse stand immer nur der erwachsene Christian. Genauer war es der Tierschützer Christian Moullec, der auch am Drehbuch des Films beteiligt war, der das Wagnis einging, jungen Wildgänsen eine sichere Route von Norwegen in den Süden zu zeigen. Der Gedanke dahinter: Die Zugvögel schaffen es heute nicht mehr, allein diese Reise zu „planen“, da zu viele durch die Menschen geschaffenen Hindernisse und Gefahrenquellen unterwegs warten. Die Grundaussage von Der Junge und die Wildgänse ist also eindeutig ökologischer Natur, wenn auf die Auswirkungen des menschlichen Handelns hingewiesen wird. Und das funktioniert gut, wenn dafür süße, kleine Gänse herangezogen werden. Denn wer würde nicht wollen, dass es ihnen gut geht?
Das Thema allein wäre schon spannend genug gewesen, zumal die Mittel von Christian etwas eigenwillig sind. Von Anfang an läuft er in einen Sack gehüllt durch die Gegend, um besser als Gänse-Identifikationsfläche durchzugehen. Das Fahrzeug wiederum, mit dem er durch die Lüfte fliegt als eine Art Leitvogel, sieht schon in einer normalen Umgebung nicht übermäßig vertrauenserweckend aus. Da die Reise später durch eine weniger überschaubare Gegend führt und erwartungsgemäß nicht viel nach Plan geht, kommt in der zweiten Hälfte richtiges Abenteuergefühl auf. Dass die Geschichte gut ausgehen muss, das ist zwar klar. Der Beitrag vom Kinderfilmfest Schlingel 2019 richtet sich nun einmal an eine jüngere Zielgruppe, Regie führte zudem der unter anderem durch Paul und die Schule des Lebens bekannte Nicolas Vanier. Nervenkitzel bleibt aber auch so noch genug übrig.
Eine schöne Familiengeschichte
Diesen Abenteueraspekt und die Ökobotschaft verbindet Der Junge und die Wildgänse mit einer Art Coming-of-Age-Geschichte, wenn Thomas dank der Beschäftigung mit den Vögeln zur Natur findet – und zu seiner Familie. Tatsächlich dreht sich ein Großteil des Films um die einzelnen Familienmitglieder und ihre Beziehungen untereinander. Die liegen anfangs noch im Argen, werden nach und nach aber besser, je mehr Zeit alle miteinander verbringen. Auch hierbei gibt es dann keine ganz großen Überraschungen. Es ist sogar ein bisschen enttäuschend, wenn sich der Film ganz aufs Märchenhafte verlegt und der Heile-Welt-Mentalität frönt. Umso mehr, wenn dabei zeitgleich die Musik unangenehm aufdringlich wird, um auch ja die gewünschten Gefühle zu erzwingen.
Aber das sind kleinere Punkte, die man dem Film gerne nachsieht. Immer wieder verzaubert er das Publikum mit rührenden, manchmal auch witzigen Szenen. Mitanzusehen, wie der Junge sein Herz für die Tiere entdeckt, geht auch dem eigenen nahe. Dazu gibt es viele schöne Aufnahmen aus der Natur – zumindest wenn der Computer nicht gerade etwas zu offensichtlich eingesetzt wird –, die Lust darauf machen, selbst einmal rauszugehen und wieder mit sich allein zu sehen, fernab des zivilisatorischen Alltags. Dass der Film dem Corona-Virus zum Opfer fiel und deshalb nicht im Kino gezeigt werden kann, ist ausgesprochen schade. Dafür bietet er gute Familienunterhaltung und ein bisschen Ferien für all die, die selbst gerade gern unterwegs wären, das aber nicht können.
OT: „Donne-moi des ailes“
IT: „Spread Your Wings“
Land: Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Nicolas Vanier
Drehbuch: Christian Moullec, Matthieu Petit
Musik: Armand Amar
Kamera: Éric Guichard
Besetzung: Jean-Paul Rouve, Louis Vazquez, Mélanie Doutey, Lilou Fogli, Frédéric Saurel
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