Unter seinen Kollegen gilt Henry Jekyll (John Barrymore) als ein fähiger Arzt, der sein Leben ganz seiner Arbeit und seiner Forschung widmet, aber etwas zu verbergen hat – zumindest wenn es nach dem Vater seiner Verlobten Millicent (Martha Mansfield) geht. Um seinen baldigen Schwiegersohn auf die Probe zu stellen, nimmt er ihn gar mit in zwielichtige Tanzlokale der Stadt, was anschließend zu einem erhitzten Disput über die menschliche Seele führt. Jekyll glaubt, man könne durch die Medizin das Böse im Menschen vom Guten trennen, eine Theorie, für die sein Schwiegervater nicht viel übrig hat. Dennoch begibt sich Jekyll an die Arbeit und meint nach wenigen Wochen, mit einem Elixier den nötigen Fortschritt erzielt zu haben. Ungefähr zur gleichen Zeit treibt der unheimliche Mr. Hyde sein Unwesen in der Stadt. Während er in den armen und dunklen Bezirken der Stadt seinen Geschäften nachgeht, kehrt er immer wieder in Jekylls Praxis zurück, sehr zur Verwunderung der Bediensteten, die sich vor Hyde fürchten. Während die Exzesse des Mr. Hyde immer unkontrollierbarer werden, verdichten sich die Hinweise auf seine Verbindung zu Jekyll, der diesen sogar in sein Testament mit aufgenommen hat.
Porträt einer Verwandlung
Für die Verfilmung der berühmten Novelle Robert Louis Stevensons versammelten sich viele der frühen großen Bühnen- und Filmstars unter der Regie von John S. Robertson, einem der fleißigsten Filmemacher dieser frühen Jahre des Kinos. Robertsons Verfilmung, die sich vor allem an der Bühnenversion des Stoffes aus dem Jahre 1887 orientiert, gilt auch als sein bekanntester Film, was nicht zuletzt der Darstellung John Barrymores geschuldet ist, der für die Transformation von Jekyll zu Hyde sich vor allem auf sein Minenspiel und seine Körpersprache verließ. Dies ist einer der vielen Aspekte, die in der unlängst von Studio Hamburg vertriebenen kolorierten Fassung des Filmes noch einmal mehr zur Geltung kommen.
Insgesamt ist die Darstellung Barrymores der beeindruckendste Aspekt dieses Films, jene Szenen der Verwandlung des guten Jekyll in das Monster Hyde. In seinem für den Stummfilm typischen übertriebenen, stark theatralischen Spiel findet sich zum einen das Dilemma einer Person wieder, welche sich als Wissenschaftler als Mann der Kontrolle sieht, als „Gott“ wie es an einer Stelle heißt, die aber nun zusehends die Kontrolle verliert. Auf der anderen Seite ist sein Mr. Hyde eine fast schon karikaturhafte, böse Fratze, die sich in vielsagenden Gesten der Vielweiberei, dem Alkoholismus und dem Sadismus hingibt, wenn er rüde Frauen in Kneipen anspricht oder gar ein Kind angreift.
Trotz aller Theatralik bleibt die Verwandlung erschreckend, betont das Drehbuch noch den Gegensatz, wie ihn schon Stevensons Werk beschreibt. Gerade in diesen Szenen der Verwandlung spielt die Musik noch eine wichtige Rolle, unterstreicht sie den Schrecken dieses Akts, diese Aufgabe der Kontrolle hin zum Animalischen.
Das Biest der Moderne
Im Kontext der frühen Horrorfilme wirkt Barrymores Darstellung des Jekyll/Hyde wie ein direkter Verweis auf jene Wissenschaftlerfiguren des Genres, steht in direkter Verwandtschaft zudem zu Figuren wie Faust. Das viktorianische London, die Gestaltung der Innenräume sowie der starke Glaube an den Fortschritt, der Eroberung der Natur durch den Menschen und seine Wissenschaft, durchziehen Robertsons Film wie schon die Vorlage. Der Rationalismus und das Fortschrittsdenken produzieren Monster, heißt es. Umso erschreckender ist es, wenn diese in uns schlummern und nicht dort draußen sind. Spätere Verfilmungen des Stoffes sollten gerade die moralische Ambivalenz der Vorlage noch weiter herausarbeiten, die sich bei Robertson in Andeutungen darüber verliert, wie abhängig Hyde von Jekyll ist oder ob nicht gar Jekyll Gefallen an der Wildheit seines Alter Egos findet.
OT: „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“
Land: USA
Jahr: 1920
Regie: John S. Robertson
Drehbuch: Clara Beranger, Thomas Russell Sullivan
Vorlage: Robert Louis Stevenson
Kamera: Roy F. Overbaugh
Besetzung: John Barrymore, Martha Mansfield, Charles W. Lane, Nita Naldi
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