Der Überläufer Florian Gallenberger
Florian Gallenberger beim Dreh von "Die Überläufer" (© NDR/Dreamtool Entertainment)

Florian Gallenberger [Interview]

Der TV-Film Der Überläufer (Sendetermin: 8 und 10. April 2020 in der ARD) ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans des Schriftstellers Siegfried Lenz. Der Zweiteiler erzählt die Geschichte eines Wehrmachtssoldaten, gespielt von Jannis Niewöhner, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zurück an die Front geht und in einen Konflikt gerät zwischen Verantwortung und Pflicht. Im Interview reden wir mit Regisseur Florian Gallenberger über die Produktion des Films, die Zusammenarbeit mit der Besetzung sowie das Filmgeschäft in Zeiten von Corona.

Wie sind Sie zu dem Projekt gekommen?
Ich bin erst spät zu dem Projekt dazugekommen, nämlich erst im März 2019, als mich der Produzent Stefan Raiser anfragte, ob ich Interesse hätte, die Regie bei der Verfilmung von Der Überläufer zu übernehmen. Dann habe ich mich zunächst mit Lenz’ Roman befasst und mir war danach klar, dass ich dieses Projekt machen will, alleine schon, weil mich die Figur des Überläufers sehr interessierte, eine Figur also, die meist ja eher die Rolle des Verräters oder des Bösewichts einnimmt. Dazu kam noch ein biografischer Bezug, denn ich habe meine Frau in einem Zug in Polen kennengelernt, ähnlich der Begegnung der beiden Hauptfiguren im Roman, auch wenn naturgemäß der zeitliche Kontext ein vollkommen anderer war. So kam ich also zu Der Überläufer und habe mich das gesamte letzte Jahr mit diesem Projekt befasst.

Was finden oder fanden Sie so faszinierend an dem Roman?
Ich glaube, ich interessiere mich für Menschen, die in einem schwierigen Moment Entscheidungen treffen müssen, die sich in einer hochkomplexen Situation befinden und die nun herausfinden müssen, was für sie das Richtige ist und wie sie ihre Integrität retten können. Zudem mag ich den zeitlichen Faktor, wenn sich also eine solche Situation über einen größeren Zeitrahmen entwickeln kann. Im Falle von Der Überläufer muss die Figur, die von Jannis Niewöhner gespielt wird, sich immer wieder fragen, wie sie sich ihre Menschlichkeit bewahrt im Kontext eines verheerenden Weltkrieges. Deswegen kommt er immer wieder in Situationen, in denen er nicht dem folgen kann, was ihm vorgegeben oder befohlen wird.

Hier sehe ich auch den Bezug zu der heutigen Welt, denn wenn wir uns als mündige Bürger verstehen, können wir uns nicht einfach nur darauf berufen, was ein System oder eine Gruppe von uns erwartet, sondern wir haben unsere eigene Verantwortung für unser eigenes Handeln.

Wie haben Sie sich der Figur des Walter Proska, die Jannis Niewöhner im Film spielt, als Drehbuchautor und Regisseur angenähert?
Als ich im März 2019 zu dem Projekt dazukam, stand die Besetzung des Walter Proska mit Jannis Niewöhner schon, was für mich ein weiterer Grund war, das Projekt zu machen. Zwar hatte ich mit Jannis zuvor nie gearbeitet, fand ihn aber für die Rolle eine großartige Besetzung. Deshalb habe ich mich an die Figur des Walter Proska immer mit Jannis im Hinterkopf angenähert. Ich war mir auch sicher, dass er so eine Rolle sehr gut spielen kann. Jannis und ich haben uns dann ziemlich schnell und oft getroffen, haben über die Figur gesprochen und wie Jannis sich diesen Menschen vorstellt, sodass es in gewisser Weise auch eine gemeinsame Annäherung an die Rolle.

Natürlich gibt es die Figur, wie sie Lenz in seinem Roman beschreibt, aber dann müssen wir diesen Menschen dennoch für uns definieren, uns in ihn hineinversetzen, was über die erwähnten Gespräche lief und natürlich über die Zusammenarbeit mit Bernd Lange, der das Drehbuch schrieb. Das hatte sehr viel mit Recherche zu tun, über die historische Dokumente und Fakten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und danach. Jedoch in diese Figur zu schlüpfen und sie zu verstehen, ging in erster Linie über die Gespräche mit Jannis, Bernd und mir.

Der Überläufer
Jannis Niewöhner spielt in „Der Überläufer“ einen Soldaten im Zweiten Weltkrieg zwischen Pflicht und Verantwortung (© NDR/Dreamtool Entertainment)

Spannend an dem Film ist, wie er Innenräume entwirft, beispielsweise den Bunker oder das Büro, in dem Proska im letzten Teil des Films arbeitet, und wie deren Darstellung eine Atmosphäre der Anspannung erzeugt. Können Sie erklären, wie ihre Herangehensweise an diese und andere Szenen war?
In Der Überläufer habe ich mit einer deutsch-polnischen Crew gearbeitet, wobei das Production Design des Films von zwei sehr erfahrenen polnischen Szenenbildnern erstellt wurde, nämlich Magdalena Dipont und Robert Czesak.

Wenn Proska am Anfang des Films den heimischen Hof verlässt, kehrt er eigentlich nie wieder zu einem wirklich positiven, heimisch konnotierten Ort zurück. Im Falle des Bunkers ist das natürlich sehr einfach zu erreichen, aber auch bei den Sets, die zeitlich in den 50er Jahren verankert sind, merkt man, dass es sich hier nicht wirklich um ein Zuhause handelt, es ist alles etwas überzeichnet, ein Stückchen zu bunt und zu viel „heile Welt“. Es ist ein Stück weit Verdrängung, denn mit dieser Biografie einfach glücklich und zufrieden in einem solchen Zuhause zu leben, ist für einen Menschen wie Walter Proska unmöglich.

Wie haben Sie sich den weiblichen Charakteren, gespielt von Malgorzata Mikolajczak und Leonie Benesch, angenähert?
Zunächst einmal haben wir nach einer Besetzung für die Rolle der Wanda gesucht, da diese Figur eine der tragenden Säulen der Geschichte ist. In der ersten Runde des Castings in Polen suchten wir nach polnischen Darstellerinnen, die auch Deutsch sprachen. Da der Ertrag recht überschaubar war, haben wir das Casting dann geöffnet für alle Schauspielerinnen und sind dann recht bald auf Malgorzata gestoßen, die aber kein einziges Wort Deutsch konnte. Für die Rolle hat sie dann ihre deutschen Dialoge mit einem Sprachcoach phonetisch gelernt. Ich habe wirklich großen Respekt für ihren Einsatz und ihr Engagement für die Rolle.

Zudem haben sie und Jannis wunderbar harmoniert. Das sieht man gerade am Anfang, wenn beide auf der einen Seite in ihren Rollen als Soldat und Partisanin stecken, aber auf der anderen Seite ihre Zuneigung für den anderen nicht ignorieren können.

Die Figur der Hilde gibt es im Roman nicht, die haben wir erst im Nachhinein der Geschichte hinzugefügt. Mit Leonie besetzten wir eine Schauspielerin, mit der ich nie zuvor zusammengearbeitet hatte, die ich aber für ihre Leistungen sehr bewundere. Wichtig war mir, dass Hilde einen echten Gegenpol zur Figur Wanda bildet. Hilde geht sehr planerisch an ihr Leben, sie ist patent und praktisch. Wanda ist im Gegensatz dazu impulsiv, sie glaubt an die große Liebe und wird deshalb immer einen Platz im Leben Proskas einnehmen, den Hilde nicht ausfüllen können wird. Der Film ist strukturell so angelegt, dass immer, wenn es um Wanda geht, Hilde hinzukommt und den Moment unterbricht. Sie verdrängt Wanda aus Walters Leben, aber eben nicht aus seinem Herzen.

Ein weiterer Charakter, der sehr spannend ist für den Zuschauer, ist der des Willi Stehauf, gespielt von Rainer Bock. Können Sie auch etwas zu der Zusammenarbeit mit Herrn Bock sagen?
Der Roman ist gerade in seiner zweiten Hälfte recht fragmentarisch und bietet viele Leerstellen, die man als Autor und Regisseur füllen kann und muss. Auch die Figur des Willi Stehaufs kommt so, wie sie im Film gezeigt wird, nicht im Roman vor, wo sie nur in der ersten Hälfte auftaucht.

Für die Dramaturgie des Films ist eine solche Figur aber besonders wichtig. Wenn Stehauf in der zweiten Hälfte nach dem Krieg das Büro betritt, ist es äußerlich der gleiche Mensch, aber man bemerkt, dass sich innerlich sehr viel bei ihm getan hat. Rainer hat das unglaublich toll gespielt und mit einer scheinbaren Mühelosigkeit, die ich sehr bewundere. Das hat mich darin bestätigt, dass ich bei der Besetzung der Rolle auf ihn bestanden habe, auch wenn ich zuvor nie mit ihm gearbeitet hatte.

Rainer ist ein sehr gründlicher Schauspieler, der viel hinterfragt und mich als Regisseur auf positive Art und Weise herausgefordert hat. So macht er die Figur dreidimensional und plastisch für den Zuschauer.

Es steht zwar dank des Coronavirus derzeit alle still, auch im Kulturbetrieb, aber dennoch möchte ich fragen, ob es derzeit Projekte gibt, an denen Sie arbeiten und über die Sie reden wollen?
Ja, gibt es, aber im Moment weiß natürlich niemand, wie und wann es weitergeht. Der Plan war im Sommer mit den Dreharbeiten zu einem Projekt namens Es ist nur eine Phase, Hase zu beginnen. Die Umsetzung des Bestsellers von Maxim Leo und Jochen Gutsch, in dem es um Alterspubertät geht, wäre also eine leichte Komödie und somit ein ziemliches Kontrastprogramm zu Der Überläufer. Doch im Moment ist alles im Unklaren.

Nun ist ja die Filmbranche schon immer ein Geschäft gewesen, in dem man mit Unwägbarkeiten zu kämpfen hat und mit ihnen umgehen musste. Diese Krise wird jetzt aber eine Schneise der Verwüstung in der Branche hinterlassen und viele Menschen an die wirtschaftliche Grenze bringen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Florian Gallenberger
© Mathias Bothor
Zur Person
Florian Gallenberger wurde 1972 in München geboren und arbeitet als Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent. Nach dem Abitur begann Gallenberger ein Studium der Philosophie, Psychologie und in Russisch, bevor er dann 1992 zu Münchener Hochschule für Fernsehen und Film wechselte. Während seines Studiums arbeitete er unter anderem mit namhaften Regisseuren wie Wim Wenders an dem Projekt Die Gebrüder Skladanowsky mit und gewann mit seinem Abschlussfilm Quiero ser 2001 einen Oscar in der Kategorie Bester Kurzfilm. Dem Kinopublikum ist Florian Gallenberger vor allem durch Filme wie John Rabe oder Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück bekannt, für die er beispielsweise mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde.



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