Während sich die Welt momentan noch immer wegen des Coronavirus in einer Zeit befindet, in der nur der Kampf gegen das Virus auf der politischen und sozialen Agenda steht, ruhen auch die Proteste in Hongkong. Fast vergessen sind die Bilder des vergangenen Jahres, als man sah, wie sich vor allem junge Protestler Straßenschlachten mit Polizisten lieferten, ausgelöst durch das umstrittene Gesetz über flüchtige Straftäter und die Rechtshilfe in Strafsachen, welche viele Studenten, Politiker und Juristen als eine Aushöhlung des Rechtssystems Hongkongs betrachteten. Nachdem aber der Gesetzesentwurf offiziell zurückgezogen wurde im Oktober 2019, ebbte die Welle der Proteste nicht ab und fand erst mit der COVID-19-Pandemie ihr vorzeitiges Ende.
In den Protesten zeigt sich eine andere Wahrheit, die über den Widerstand gegen einen Gesetzesentwurf hinausgeht und wahrscheinlich noch lange nach der Viruspandemie eine Rolle spielen wird, auch über die Grenzen Hongkongs hinaus. Ein ähnlicher Gedanke wird auch den chinesischen Dokumentarfilmer Zhou Bing verleitet haben in seinem neuen Film Hong Kong Moments, welcher im diesjährigen DOK.fest München gezeigt wird, einen Blick auf die Proteste zu werfen, wie sie die Gesellschaft in der Metropole verändern und welche Motivation die einzelnen Parteien antreibt. Der vielfach preisgekrönte Regisseur zeigt ein Hongkong, das tief gespalten ist, vor allem zwischen der jüngeren und der älteren Generation und dessen jüngste Ereignisse wahrscheinlich noch lange nachwirken werden, denn gerade die Forderungen der jungen Menschen gehen über das Auslieferungsgesetz hinaus und verlangen nach einem demokratischeren Hongkong.
Konzepte von Demokratie
Für seinen Film verfolgt Zhou Bing einen ambitionierten aber sehr reizvollen Ansatz, betrachtet er die Proteste als sozialpolitisches Phänomen, das es mehrperspektivisch zu definieren gilt. Ausgehend von Einzelpersonen nimmt er die Sicht des radikalisierten Demonstranten, des Polizisten, des Unternehmers und der Politik ein, deren Forderungen und Wünsche sich nicht nur in den Protesten äußern, sondern zu einer Kluft zwischen zwei Generationen von Hongkongern geführt haben. Die Lebensgeschichten sowie die tiefe Verbundenheit betonen, aus welcher Position heraus Bings Gesprächspartner argumentieren, weshalb sie eine Seite unterstützen, aber auch welchem psychischen Druck sie sich ausliefern durch ihre Wahl. Bings Ansatz ist nicht nur sehr informativ, sondern beleuchtet die Spaltung einer Gesellschaft, ausgelöst durch die Forderung nach mehr Demokratie und Mitspracherecht, wie man sie auch in anderen Teilen der Welt, beispielsweise in der Occupy Wall Street-Bewegung, wahrgenommen hat.
Immer wieder sieht man die Skyline Hongkongs oder die langen Straßenzüge der Stadt, aufgenommen aus der Luft, während eine lange Reihe von Demonstranten die Stadt durchquert. Demokratie, so heißt es an einer Stelle, soll ein Eckpfeiler dieser Stadt sein, ein gelebtes Prinzip, was man anhand Züge von Demonstranten sieht, welche die Lebensadern Hongkongs durchqueren. Jedoch gibt es nicht nur ein Konzept von Demokratie, wie uns Bings Gesprächspartner darlegen, was letztlich immer wieder zu Disputen und zu einer Radikalisierung der Position geführt hat. Ray, ein Taxifahrer, berichtet beispielsweise von langen Auseinandersetzungen mit seinem Sohn wegen der Proteste, für deren Vorgehensweise er wenig Verständnis aufbringen kann, während sein Sohn immer wieder an Demonstrationen teilnimmt oder diese gar mitorganisiert.
Dann wieder ist Bings Film mitten im Geschehen, zeigt teils drastische Bilder von Straßenschlachten oder Verhaftungen. Daraus ergibt sich stets die unschuldig anmutende Frage, ob die Hongkonger noch Hongkonger nach all diesen Ereignissen sind, nach diesen Monaten des Protests, die, so scheint es, zu einer Verhärtung der Positionen geführt hat.
OT: „Hong Kong Moments“
Land: Deutschland
Jahr: 2020
Regie: Zhou Bing
Musik: Sonic Lee
Kamera: Wade John Muller, Xue Ming, Lin Qian Sha, Barry Chung Cheuk Fan, Christopher Tang Chi Long, Chen Xu Jian, Yi Bing Quan
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