In der Diskussion um Einwanderung und Flucht, welche spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 wieder im allgemeinen Gedächtnis angekommen ist, fehlt oft ein Diskurs über das Konzept der Heimat. Während die Einen aus ihrer Heimat und allem, was sie mit dieser verbinden, teils gewaltsam herausgerissen worden sind, sehen die Anderen ihre Heimat als bedroht an und ziehen im Namen eines bisweilen vagen Gefühls für eben diese auf sie Straße. Die Idee der neuen Heimat beinhaltet eine Chance, einen neuen Start, den sich viele von ihr versprechen, doch andere wiederum verlieren sich in dem Gefühl des Heimwehs, der Trauer um das, was zurückgelassen wurde und haben große Probleme, sich in der neuen Heimat, so man sie so nennen kann, zurechtzufinden.
Nach dem verheerenden Erdbeben in der chinesischen Region Sichuan im Mai 2008, welches 70.000 Opfer forderte und viele Millionen Menschen obdachlos machte, sah sich auch das Volk der Qiang, eine ethnische Minderheit, die am Rande des tibetanischen Hochlandes lebt, gezwungen, sich eine neue Heimat zu suchen. In seiner Dokumentation Qiang’s Journey, welches auf dem diesjährigen DOK.fest München gezeigt wird, begleitet der chinesische Fotograf Tunzi Gao diesen Prozess der Umsiedlung des Volkes, angefangen unmittelbar nach dem Beben im November 2008 und dann neun Jahre später mit der Frage, wie das Volk nun zu seiner neuen Heimat steht.
Land ohne Götter, Land des Anfangs
Einem anthropologischen Ansatz folgend zeigt und erforscht die Kamera Tuni Gaos das Leben der Qiang vor und nach der Umsiedlung. In Gesprächen mit jungen und alten Menschen des Volkes beleuchtet er die Reaktionen auf den Prozess, welcher vom Staat China unter dem Vorwand des Schutzes der Qiang erfolgt und zur Folge hat, dass sie binnen eines kurzen Zeitraumes ihr bisheriges Leben samt ihrer Tiere und ihrer Felder zurücklassen müssen. Während gerade die Alten dies als schmerzlichen Einschnitt in ihrem Leben sehen und sich mit existenziellen Fragen des Überlebens konfrontiert sehen, erkennt man in der Einstellung der Jungen, welche teilweise von weit her angereist kamen, damit sie ihren Eltern helfen können, die Hoffnung auf einen Neustart und ein besseres Leben.
Interessant und mit bewegenden Bildern unterlegt geht Tuni Gao der Frage auf den Grund, inwiefern die Umsiedlung nicht nur eine existenzielle Ebene hat, sondern auch eine spirituelle. Die Gegenüberstellung der jungen wie der alten Qiang sowie die zahlreichen Aufnahmen, die ihre Traditionen und religiösen Rituale dokumentieren, geben dieser Frage bisweilen weitaus mehr Gewicht gegenüber allen anderen Aspekte. So ist die Sorge um die Gräber ihrer Toten oder die Götter, welche sie „zurücklassen“, die größte Sorge vieler Qiang, wohingegen die jungen eher die wirtschaftlichen Komponenten dieses Prozesses anschneiden. Durch den Zeitsprung ins Jahr 2017 gelingt Tunzi Gao eine neue Perspektive, welche sich nun ausgehend von den Personen, die wir als Zuschauer kennengelernt haben, fragt, ob dieser neue Raum, dieses neue Leben mit einer neuen Heimat einhergeht. Die Antworten fallen, wie man es vielleicht erwartet, uneindeutig aus und werfen ein Licht darauf, welche menschliche und spirituelle Dimensionen Flucht haben kann, unabhängig von den Gründen, welche für diese vorliegen.
OT: „Qiang’s Journey“
Land: China
Jahr: 2019
Regie: Tunzi Gao
Kamera: Tunzi Gao
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