Als Regisseur hat sich Stephan Wagner schon des einen oder anderen gesellschaftlichen Themas angenommen. In seinem neuen Spielfilm Die Getriebenen (Sendetermin: 15. April 2020 um 20.15 Uhr in Das Erste) thematisiert Wagner die Flüchtlingskrise 2015 und ihre Entscheidungsträger. Die Vorlage zum Film lieferte das gleichnamige Sachbuch Robin Alexanders. Mit dem Regisseur reden wird über die Entstehung des Projekts, dessen Herausforderungen sowie über die Annäherung an Personen wie Angela Merkel.
Wie sind Sie zu dem Projekt gekommen?
Als Leser. Mich beeindruckte bei der Lektüre von Robin Alexanders Buch, wie er minutiöse Abläufe und Zusammenhänge, die ich als politisch denkender Mensch und gewissenhafter Zeitungsleser nicht im Blick hatte, darstellte. Ich habe mich dann gefragt, ob die Sprache der Fiktion nicht ein probates Mittel sein könnte, diese Geschichte sowohl spannend als auch informativ zu erzählen.
Was faszinierte Sie genau? Waren es die Personen, die Hintergründe oder die Art, wie Politik dargestellt wird?
Wir haben ja Politik meist aus der Lage des Tages zu beurteilen, wir bekommen sie also im Nachhinein durch die Medien häppchenweise präsentiert und gewinnen dabei den Eindruck, dass es sich hierbei um lineare Entwicklung handelt. Die Zusammenhänge, die über die Höhepunkte des einzelnen Tages, welche wir dann wiederum wahrnehmen, hinausgehen, bleiben unerwähnt oder bleiben ein Detail am Rande. Die überbleibenden „Häppchen“ ergeben in der Salami-Taktik auch den aufgeteilten Blick des Bürgers, der die eben erwähnten Zusammenhänge und Hintergründe gar nicht wahrnimmt. Dabei entsteht dann der Eindruck, Politik sei immer etwas Hochglanz-Präsentiertes und Inszeniertes, frei von jeglichen menschlichen Zwängen.
Robin Alexanders Buch hat mir die Möglichkeit gegeben zu sehen, dass dies anders ist. Bei ihm geht es eben nicht hauptsächlich um jene Aktionen, sondern um den Alltag der Menschen, die über das Geschick in unserem Land bestimmen, der sehr wohl von Reaktionen und Zwängen geleitet ist.
Gerade dies hat man den Politikern in unserem Lande vorgeworfen, also dass gerade die Flüchtlingskrise eher ein Reagieren als ein überlegtes Agieren war. Wie stehen Sie dazu?
Ich sehe das genauso. Der Alltag ist geprägt von Reaktionen, die dann aber gerne in einem anderen Bild dargestellt werden, um eben sich als Person mit dem Heft in der Hand zu inszenieren. Viele Menschen graben sich da gerne gegenseitig das Wasser ab und halten sich in Schach.
Die Situation um den Sommer 2015 zeigt gerade, was passiert, wenn man gezwungen ist, aus diesem beschriebenen Schema auszubrechen und sich dann mit Grundfragen zu befassen wie: Warum handele ich in einer bestimmten Art und Weise? Der Grund in diesem Fall ist, dass es sich um Entscheidungen handelt, die nicht nur das Tagesgeschäft betreffen, sondern weit darüber hinausgehen.
Sie sagten bereits, dass sie unter anderem mit den Mitteln der Fiktion an das Projekt gegangen sind. Was war hierbei die größte Herausforderung?
Bei Die Getriebenen handelt es sich um einen Spielfilm, der dokumentarische Einstellungen beinhaltet. Die Sprache der Fiktion ist die Sprache des Projektes, nicht bloß in Teilen. Jede Szene des Films ist eine mit den Mitteln der Fiktion erzeugte Szene. Dinge, die hier dokumentarisch zu sehen sind, sind bestenfalls Brücken, Auffüller oder Situationen, bei denen die handelnden Personen nicht im Vordergrund stehen und die für authentische Bilder stehen, wie sie die Medien zu der Zeit im Jahre 2015 zeigten. Was die Figuren des Filmes und ihre Handlungen betrifft sind dies aber nicht die treibenden Bilder, denn diese sind, wie bei jedem anderen Spielfilm egal welchen Genres, erzeugt.
Deshalb finde ich den Begriff des „Doku-Drama“ in unserem Zusammenhang irreführend, denn Die Getriebenen ist kein Dokumentarfilm. Für den Journalismus mag der Begriff des „Dokumentarfilms“ für das eigene kategorisierende Verständnis – auch wenn er falsch ist –vielleicht hilfreich sein, aber für den Zuschauer ist er es nicht.
Ich sehe den Film auch, wie die Pressemappe ihn beschreibt, als Politthriller. Interessant ist, wie er Personen wie Angela Merkel zeigt, von der ja jeder ein Bild im Kopf hat. Wie unterwandert man als Regisseur diese Wahrnehmung?
Die größte Herausforderung bestand bei diesem Projekt darin, in der Darstellung dieser Personen und Handlungen gewissermaßen gegen „Heiligtümer“ anzurennen, aber dennoch die erprobten Mittel des Spielfilms zu nutzen. Natürlich hatten alle Beteiligten großen Respekt vor dem Thema und den Personen, die zum größten Teil ja noch heute Teil des politischen Alltags sind. Für einen Schauspieler ist es naturgemäß ein Unterschied, ob er sich mit der Titelrolle aus William Shakespeares King Lear befasst oder mit einer Person des öffentlichen Lebens wie Angela Merkel. Schlussendlich ist es aber die gleiche Herangehensweise: Man muss sich überlegen, wen man darstellt und wie man durch diese Darstellung der Verkörperung der Person nahekommt. Dazu kommt, dass viele Zuschauer diese Darstellung mit ihrem Bild von Angela Merkel vergleichen, was eine große Herausforderung ist, aber die gleiche Arbeit meint.
Spannend bei dem Film finde ich den Umgang mit dem Phänomen der Gleichzeitigkeit ist, beispielsweise durch die Verwendung von „split screens“. Inwiefern ist der Film nicht auch ein Kommentar oder gar eine Kritik solcher Umstände, die ja eine Folge der Globalisierung sind?
Schlussendlich sind solche Bilder Ausdruck, dass sich alle zur gleichen Zeit mit ein und derselben Frage und Thematik befassen. Das entspricht der Realität des politischen Lebens.
Das Besondere an diesem Projekt war es, die verschiedenen Zeitebenen der Figuren in einer Gleichzeitigkeit zu erzählen und hier ein entsprechendes Gestaltungsmittel zu finden. Der „split screen“ ist eine Möglichkeit diese Rastlosigkeit des Politikbetriebs zu zeigen.
Bedenkt man die Bildsprache und die Darstellung von Politik in Die Getriebenen, darf man sich dann schon auf eine Verfilmung der Corona-Krise einstellen?
Das ist schwierig zu beurteilen, weil wir ja noch am Anfang dieser Krise stehen. Die Frage ist, ob die Figuren unter dramaturgischen Gesichtspunkten eine ähnliche Entwicklung vollziehen, wie sie es in der Flüchtlingskrise 2015 taten. In Die Getriebenen machen alle Figuren eine dramaturgische Reise mit, die wir als Zuschauer miterleben, keiner geht aus dem Film heraus, wie er hereingekommen ist, jeder verändert sich durch die Ereignisse. Die Geschichte der Corona-Krise ist aber noch lange nicht zu Ende erzählt.
Die Getriebenen endet ja auch recht offen und verweist damit auf die Entwicklungen und Prozesse, die sich aus den im Film gezeigten Ereignissen ergeben.
Das ist richtig, gleichzeitig basieren alle weiteren Entscheidungen, bis hin zum Pakt mit der Türkei auf dieses, im Film gezeigte Zeitfenster. Folglich sind eben jene Tage in Die Getriebenen die prägenden, sie definieren jene Zeit, die der Krise ihr Gesicht gegeben hat. Das war auch der Grund, warum wir nicht noch die Geschichte von 2016 erzählt haben, als es noch um die Folgen auf europäischer Ebene ging. Dies gab uns die Möglichkeit, an den Fakten entlang zu erzählen, die zu dem Zeitpunkt sich sehr nah am Geschehnis der Flüchtigen orientiert und sich schließlich in den Büros der Mächtigen wiederfindet.
Auch wenn ja bekanntlich dank der Corona-Krise im kulturellen Bereich so gut wie alles stillsteht, würde ich dennoch fragen, ob es derzeit Projekte gibt, an denen sie arbeiten?
Als Regisseur ist mir in der derzeitigen Lage die Möglichkeit zu arbeiten genommen, denn de facto können Dreharbeiten in Deutschland nicht stattfinden. Insofern muss ich warten, bis die Krise vorbei ist.
Als Drehbuchautor arbeite ich natürlich an Geschichten, die ich beabsichtige zu inszenieren. Das ist, wenn man so will, der „Vorteil“ der Corona-Krise, die zwangsläufig für die Ruhe im Alltag sorgt, die man als Autor braucht. Aber an dieser Stelle möchte ich über ungelegte Eier noch nicht sprechen.
Vielen Dank für das Gespräch.
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