An Heiligabend 2006 erhält Ingo Baltes einen Brief, der bestätigt, dass sein Vater Heinz an Demenz erkrankt ist. Ab diesem Abend begleitet er seinen Vater und dessen Weg mit der Kamera, tage-, monate-, jahrelang. Das tägliche Leben wird zu einem großen Rätsel und während das Kurzzeitgedächtnis schwindet, treten die Kindheitserinnerungen immer mehr in den Vordergrund. Heinz‘ Leben verlagert sich zurück ins Dritte Reich und Nachkriegsdeutschland. Ingos Film wird zu einem Tagebuch einer zehnjährigen Reise durch die Realität, in der sich alles verändert.
Das Leben nach der Diagnose Demenz
Am Anfang der Reise ist Ingo oft bei Heinz, sie unternehmen viel und besuchen sogar Freunde von früher. Sie fahren nach Thüringen zu einem älteren befreundeten Paar, Elfriede und Horst, mit denen sie die Stadt erkunden und Schnäpschen trinken. Ingo und Heinz werden sogar mit einem kleinen Klavierkonzert verabschiedet. Die Reise geht weiter nach Mainfranken auf einen Bauernhof, auf dem Heinz und seine Familie im Krieg gelebt haben, nachdem sie aus ihrem Heimatort flüchten mussten. Heinz erinnert sich an alles. Die dort noch wohnende Tina bereitet ein Festmahl vor und winkt ganz lange zum Abschied. Zurück zu Hause in Singen filmt Ingo dann ein Telefonat zwischen Heinz und, wahrscheinlich, Horst, dem er erzählt, dass es nach deren Besuch in Thüringen schon wieder zurück nach Singen ging. Den Rest der Reise hat er vergessen, den Bauernhof, das gute Essen, Tina, all die Erlebnisse.
Die Stimme aus dem Off, die durch den Film führt, gehört Ingo selbst. Seine Stimme ist sanft, zerbrechlich und zurückhaltend. Gedanken, die er nicht laut aussprechen wollte, flüstert er leise. Er gibt nicht viel preis, weder Emotionen noch Informationen. Er lässt hauptsächlich die Bilder sprechen. Kein Drama, keine Tränen, keine Action, und das ist auch gut so. Der Film zeigt somit genau, wie diese Wirklichkeit ist, nämlich sehr langsam fortschreitend, verwirrend, lähmend.
Zeitsprünge und zurückhaltende Informationen
Etwas mehr Input hätte dem Film allerdings nicht geschadet. Es ist manchmal schwer nachzuvollziehen, wo sich die beiden gerade befinden, wo Heinz überhaupt herkommt, (man kann es an seinem Dialekt erahnen), in welcher Beziehung er zu Elfriede und Horst steht. Eine relativ große Lücke in der Timeline lässt außerdem das Tempo des Films etwas ins Stolpern geraten. Der Silvesterabend mit Feuerwerk wird zum Stilmittel, um deutlich zu machen, wie die Jahre an der Familie vorbeiziehen. Die ganze erste Hälfte des Films war da nur Heinz im Anfangsstadium der Krankheit; auf einmal ist da Ingos Familie, Kinder und ein sichtlich gealterter Vater, der seinen Sohn nicht mehr erkennt. Der Sprung ist etwas zu groß und was dazwischen alles war, kommt nicht zur Sprache. Von Ingos Mutter erfahren wir fast nichts, in wenigen alten Filmaufnahmen sehen wir sie ganz kurz. Dass Heinz seit 20 Jahren alleine ist und es seitdem bei jedem Besuch von Ingo erstmal zum Friedhof geht, ist alles was uns Ingo wissen lassen möchte. Vielleicht, weil es eine ganz andere Geschichte ist, die hier keinen Platz hat.
Verwackelte Bilder, Flimmern, Tonaussetzer – so verdeutlicht Ingo, wie er sich den Realitätsverlust vorstellt, den sein Vater durchleben muss. Lange Szenen, in denen nichts passiert, nichtssagende Bilder, ein Versuch zu verdeutlichen, wie es sich anfühlt, Teile seiner Erinnerung zu verlieren, Zusammenhänge nicht mehr fassen zu können. Trotz allem bleibt Heinz so liebenswert, sein Lachen ist ansteckend. Fragen, wie „Kennst du den da auf dem Foto?“, die Ingo ihm stellt, um sein Gedächtnis zu testen, lächelt er einfach weg oder ignoriert sie. Fragt er sich dann selbst, was los ist? Merkt er ganz genau, dass er etwas noch wissen müsste, es aber einfach nicht zusammenflicken kann? Sogar sich selbst erkennt er nicht auf Fotos, er ist ein Fremder für sich selbst geworden. Doch was bleibt, ist die Erinnerung von früher. Gedichte, die Heinz als Schüler auswendig lernen musste, sagt er fehlerfrei auf. Die Menschen von damals sind alle noch da, wie eingebrannt in seine Erinnerung. Wieso vergisst er nicht die Dinge, die schon so lange her sind? Warum verschwindet jede frische, neue Erinnerung, aber die zig Jahre alten bleiben? Fragen, die verdeutlichen, wie schwer greifbar und unerklärbar die Krankheit Demenz noch immer ist.
Vater mein Bruder ist eine realistische Einsicht in eine Krankheit, die Millionen von Menschen betrifft und für alle anderen so unbegreiflich ist. Ehrlich, bedrückend und rührend.
OT: „ Father My Brother“
Land: Belgien
Jahr: 2019
Regie: Ingo Baltes
Kamera: Ingo Baltes
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