Manche Errungenschaften sind so sehr in unserem Alltag verankert, dass wir uns diesen gar nicht mehr anders vorstellen könnten – und das obwohl sie gar nicht so alt sind und hart umkämpft waren. Das betrifft demokratische Fortschritte oder soziale Absicherungen. Es betrifft aber auch ein kleines Objekt, das mächtig Ärger machte, als es 1960 auf den Markt kam: die Pille. Mittel zur Empfängnisverhütung hatte es zuvor natürlich auch schon gegeben. In Ägypten gab man sich bereits vor 2500 Jahren Tipps, wie ungewollte Schwangerschaften vermieden werden könnten. Das Kondom gibt es immerhin seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Und doch war der Aufschrei groß, sowohl durch die Kirche wie auch besorgte Männer, die für die moralische Verfassung des schwachen Geschlechts kämpften. Oder zumindest so taten.
Tatsächlich war die Pille nicht allein eine medizinische Maßnahme, sondern auch Symbol weiblicher Selbstbestimmung – was in den 60ern auf fruchtbaren Boden fiel, die ohnehin von dem zunehmenden Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung bestimmt waren. Doch eben diese Selbstbestimmung führte zu auch zu bitter geführten Diskussionen oder eben Verboten, wie es der Papst höchstpersönlich verkündete. Geschlechtsverkehr, der nicht der Fortpflanzung dient? Ein Sakrileg! Wie viel von der Ablehnung nun auf religiöse Gründe zurückzuführen war, wie viel auf den Versuch, Frauen auch weiterhin als Menschen zweiter Klasse kleinzuhalten, das sei mal dahingestellt. 60 Jahre Pille – Wo bleibt die Pille für den Mann?, ein Dokumentarfilm zum Jubiläum, erinnert zwar an die damalige Zeit und gibt Einblicke in die Kämpfe. Das eigentliche Thema ist jedoch ein anderes.
Ein Triumph mit Fragezeichen
So wichtig die Pille auch war, als Mittel der selbstbestimmten Lebensplanung, sechzig Jahre später ist sie aus anderen Gründen umstritten – und das eben auch bei Frauen. Die Effektivität des Medikaments ist unbestritten hoch. Aber sie hat auch Nebenwirkungen, die mal stärker, mal schwächer sein können, unangenehme Folgen wie Stimmungsschwankungen oder Übergewicht nach sich ziehen können. Vor allem aber gab es Todesfälle ansonsten gesunder Frauen, die sich auf die Einnahme der Pille zurückführen lassen. Regisseurin Kirsten Esch verknüpft Ausführungen zu den Risiken, die eine fortwährende Einnahme mit sich bringt, mit der Frage: Warum nehmen eigentlich nur die Frauen Medikamente zu sich, während Männer nichts machen müssen?
Daraus hätte man eine Grundsatzdebatte müssen. Teilweise spricht 60 Jahre Pille – Wo bleibt die Pille für den Mann? das Thema auch an, zeigt auf, dass die Einseitigkeit eine Frage der Einstellung ist. Frauen sind die Leidtragenden einer ungewollten Schwangerschaft, also haben sie auch ein größeres Interesse daran, diese zu verhindern. Das ist einleuchtend, wenngleich ziemlich zynisch. Und sicher nur ein Faktor unter mehreren. Glücklicherweise gibt es aber auch Männer, die sich der eigenen Verantwortung stellen und deshalb verschiedenen Möglichkeiten nachgehen. Möglichkeiten, die langsam erforscht werden und nach dem längeren Einstieg des Dokumentarfilms dann auch in den Mittelpunkt rücken.
Eine ernüchternde Bestandsaufnahme
Esch stellt an der Stelle mehrere Ansätze vor, historische wie aktuelle, berichtet beispielsweise von einer vorzeitig abgebrochenen Studie, aber auch neuen Experimenten und Wegen, die Alternativen zur herkömmlichen Einnahme von Medikamenten sein sollen. Neben einem Gel, das auf dem ganzen Körper aufgetragen wird, ist insbesondere eine etwas eigenwillige Unterhose auffällig, die bei regelmäßiger Benutzung die Spermien unbrauchbar machen soll. Das ist als Idee interessant, aber auch kurios – und nicht sehr praktikabel. Die gute Absicht der Projekte ist unverkennbar, werden in den Interviews deutlich. Doch das allein macht noch kein realistisches Projekt daraus.
Die Hindernisse sind dabei sehr unterschiedlich. Manches hat gar nicht mal etwas mit dem Thema Verhütung zu tun, sondern eher mit den Eigenheiten des pharmazeutischen Bereiches allgemein – was die derzeitigen Corona-Bemühungen in einem etwas anderen Kontext erscheinen lässt. Aber es braucht eben auch den Wandel in den Köpfen, eine Revolution, die nicht minder groß wäre als die vor 60 Jahren: Verhütung ist nicht allein Frauensache. 60 Jahre Pille – Wo bleibt die Pille für den Mann? ist deshalb nicht nur Rückblick und Bestandsaufnahme, sondern auch Aufforderung an die Menschen da draußen, sich eben nicht auf jahrzehntelangen Errungenschaften auszuruhen, sondern durchaus auch mal ein bisschen nach vorne zu schauen und nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen.
OT: „60 Jahre Pille – Wo bleibt die Pille für den Mann?“
Land: Österreich
Jahr: 2020
Regie: Kirsten Esch
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