Innerhalb jeder Kultur gibt es Orte, deren Existenz und Entstehung von Legenden und Mythen umgeben ist. An Orten wie Stonehenge oder den Statuen auf den Osterinseln verbinden sich die Gegenwart des Betrachters mit einer Vergangenheit, bei der man sich oftmals nicht sicher ist, wo man zwischen Realität und Mythos unterscheiden kann. Gerade diese Unsicherheit macht einen Großteil der Anziehung und der Schönheit dieser Plätze aus, denn ihre Unerklärbarkeit mag auch ein Verweis auf die vielen Aspekte unserer Welt sein, bei denen man sich der Grenzen der Rationalität bewusst wird.
Innerhalb der lateinamerikanischen Kultur gibt es eine Vielzahl solcher Orte, man denke nur an die geheimnisvolle Pracht von Machu Picchu oder der zahlreichen Bauwerke der Mayas und Inka. Für die Maya waren neben ihren Bauwerken auch Orte wie die Cenotes, dolinenartige Kalksteinlöcher, die vermutlich durch den Einsturz von Höhlendecken entstanden, Plätze, die innerhalb ihrer Kultur eine zentrale Rolle spielten. Während sie zum einen, gerade in Dürrezeiten, als Wasserquelle dienten, waren sie auch religiöse Stätten, an denen Opferzeremonien abgehalten wurden für die Götter des Wassers und der See. In ihrer Dokumentation Cenote, die auf der diesjährigen Nippon Connection gezeigt wird, nähert sich die japanische Regisseurin Kaori Oda diesen Orten, ihrer Geschichte und ihrer Schönheit, wobei ihr eine Dokumentation gelungen ist, die durch ihr Zusammenspiel von Klang und Bild den Zuschauer auf eine ganz besondere Reise mitnimmt.
Über Orte und ihre Mythen
Bereits Odas letzte Arbeit, die Dokumentation Towards a Common Tenderness (2017), distanzierte sich in ihrer Herangehensweise und ihren Bildern von den traditionellen Ansätzen und näherte sich besonders auf visueller Ebene den Arbeiten eines Chris Marker (Sans Soleil) an. Die langen Einstellungen, die Tauchgänge, die das labyrinthische Innere der Cenotes zeigen, leiten über zu den Menschen, denen Oda begegnet und ihren Geschichten, die von der Vergangenheit der Cenotes handeln, von Menschen, die in ihnen verschwanden oder einfach von der Launenhaftigkeit dieser Unterwasserhöhlen. Ihre Geschichten legt Oda über die Bilder dieser Unterwasserwelt, ihrer mystischen Schönheit, dem Spiel aus Hell und Dunkel und betont das Geheimnisvolle dieser Welt. Es sind Orte, so scheint es, an denen sich die Gegenwart mit der Vergangenheit trifft und die nicht vergessen, bei denen jede Geschichte zu einem möglichen Puzzleteil dieser visuellen Chiffre werden kann.
Wie die Menschen, in deren Gesichter die Kamera blickt, gibt es kein Vergessen an diesem Ort. Immer wieder ertappt man sich als Zuschauer bei der Frage, ob es nicht die Geschichten der vielen Opfer sind, welche dieser Ort gefordert hat, die man da hört, erzählt von ihnen selbst in diesem heimlichen Flüsterton. Wie um das Bild zu vervollständigen nutzt Oda natürliche Klänge, mit Vorliebe das Blubbern und Gluckern von Wasser, was sie verfremdet und somit unterstreicht, dass die Reise in die Cenotes eine Begegnung mit diesen Stimmen, diesen Geschichten und diesen fernen Welten darstellt, die auf einmal so nahe sind.
OT: Ts’onot
Land: Japan, Mexiko
Jahr: 2019
Regie: Kaori Oda
Drehbuch: Kaori Oda
Kamera: Kaori Oda
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