In ihrer gemeinsamen Dokumentation Songs of Repression befassen sich Estephan Wagner und Marianne Hougen-Mouraga mit den menschlichen Konsequenzen der früheren Colonia Dignidad, wie sie die weiterhin noch vor Ort lebende Gemeinschaft prägt und wie das nicht überwundene Trauma des Systems ihres Gründers Paul Schäfer noch heute viele ihrer Bewohner beschäftigt. Wir haben uns mit dem Regieduo im Rahmen des DOK.fest München 2020 unter anderem über die Entstehung des Projekts, den Dreh und die Reaktionen auf ihren Film unterhalten.
Im Programm von DOK.fest München wird ihr Film unter dem Titel Songs of Repression geführt, aber viele Rezensionen sprechen von The Art of Repression. Welcher Titel gefällt ihnen am besten?
Hougen-Moraga: The Art of Repression war immer nur der Arbeitstitel des Films. Wir mochten den Titel, aber wir fanden beide, dass er auch etwas zu akademisch wirkte. Es war ein Titel, der von der Entdeckung von etwas spricht, wohingegen Songs of Repression ein Titel ist, der sehr gut zusammenfasst, was wir mit den Menschen, die wir für den Film getroffen haben, erlebt haben. Abgesehen davon ist Songs of Repression ein viel poetischerer Titel, der sich auf das Thema des Singens im Film bezieht, da die Lieder, welche die Menschen, die wir treffen, singen, auf der einen Seite sehr schön sind, aber für Andere Mittel der Unterdrückung repräsentieren. Songs of Repression ist also ein Titel, der sich sehr auf das bezieht, was man als Zuschauer in dem Film erlebt, wobei The Art of Repression ein sehr allgemeiner und sehr intellektueller Titel gewesen wäre.
Wagner: The Art of Repression war der Arbeitstitel des Films bis kurz vor dessen Fertigstellung. Erst dann haben wir ihn geändert und das war sehr gut so.
Wie kam es zu dem Projekt?
Wagner: Ich selbst bin Deutsch-Chilene, aufgewachsen in der deutschen Minderheit in Chile, und meine Familie, mit der ich jetzt nicht mehr viel zu tun habe, ist politisch sehr rechts orientiert, was dort wie auch in Deutschland viel bedeutet. Die deutsche Minderheit in Chile hält sehr stark zusammen und die Colonia Dignidad war in meiner Kindheit immer ein Begriff, der mit vielen positiven Assoziationen verbunden war. Dazu muss ich sagen, dass die Kolonie ungefähr 100 Kilometer von ihrem Gebiet ein deutsches Restaurant an der Pan Americana unterhielt, sodass jedes Jahr, wenn meine Familie in den Urlaub in den Süden fuhr, unsere Reise so getimt wurde, dass wir dort zu Mittag essen konnten. Mariannes Familie kommt aus einer Region, in der die Kolonie heute immer noch ist. Ihre Mutter war eine politisch Verfolgte unter dem Regime Pinochet und hat dann in Dänemark Exil gefunden. Marianne ist mit dem Wissen aufgewachsen, dass man sich der Kolonie nie auch nur nähern sollte, weil es bekannt war, das politische Gefangene dort verschwanden. Beide hatten wir als Kinder einen Bezug zu der Kolonie, aber komplett entgegengesetzt. Als wir älter wurden, hat sich natürlich auch unser Weltbild weiterentwickelt. Zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens haben wir festgestellt, dass wir beide diesen Bezug zur Kolonie haben, aber eben sehr konträr und enorm schwarz-weiß. Das hat uns interessiert, denn wir haben uns lange mit Themen wie Unterdrückung, Trauma, sowie post-totalitären Systemen befasst und da haben wir in der Kolonie letztlich einen Mikrokosmos gefunden, der diese ganzen Themen in sich vereint und deren Geschichte so viele verschiedene Seiten hat. Auch heutzutage wird die Kolonie immer noch sehr schwarz-weiß dargestellt. Entweder sind dort alle Monster, was zum Beispiel von manchen chilenischen Menschenrechtsorganisation, aus ihrer Perspektive auch mit verständlichen Gründen, vertreten wird. Andererseits wird das Bild vertreten, dass alle nur Opfer waren und Paul Schäfer der einzige Teufel. Keines der beiden Bilder ist richtig oder vollständig, denken wir und das wollten wir mit unserem Film erforschen.
Wie hat die Kolonie und deren Bewohner auf das Projekt reagiert?
Hougen-Moraga: Während eines Chile-Urlaubs Anfang 2017 mit unseren Kindern haben wir die Kolonie besucht und wollten wissen, ob es überhaupt möglich wäre, dort einen Film zu drehen. Wir haben schnell herausgefunden, dass das Projekt in der Tat möglich war. Ein Jahr später sind wir mit unseren Kindern und meiner Mutter nach Chile gezogen, sodass wir jeden Tag zur Kolonie gehen konnten. Am Anfang waren die Bewohner natürlich sehr zögerlich, wenn es darum ging, mit uns zu sprechen, denn obwohl die Kolonie das Projekt gutgeheißen hatte, waren die Bewohner daran gewöhnt, in Reportagen und Artikeln in einem sehr einseitigen Licht dargestellt zu werden. Die meisten Medienvertreter – und das sind in den letzten Jahren viele gewesen – kommen für 4 oder 5 Tage, mit vorgefertigten Fragen und alle wissen was die „richtigen Antworten“ sein sollen. Als sie aber bemerkten, dass wir im Laufe von sechs Monaten so gut wie jeden Tag bei ihnen waren, begannen sie, uns zu vertrauen, weil sie wussten, dass wir ein aufrichtiges Interesse hatten. Und auch nach diesem halben Jahr, kamen wir mehrmals für mehrere Wochen hin, um das Projekt weiter zu vertiefen. Wir gaben ihnen einen Ort, an dem sie sich uns mitteilen, sich öffnen konnten. Wir haben mit ihnen keine Interviews, sondern Beziehungen aufgebaut und Gespräche geführt, die wir nie vorbereitet haben im Sinne von, dass wir spezifische Antworten haben wollten oder bestimmte Fragen stellen mussten. Daneben spielte es auch eine Rolle, dass Estephan wegen seiner Herkunft und seiner Kenntnis der lokalen Kultur und der Sprache noch einen weiteren Zugang zu den Menschen der Kolonie hatte. Für uns waren die Zeit und die Tatsache, die Menschen wirklich längerfristig kennenzulernen, wichtige Faktoren für das Projekt, und für die Menschen war es wichtig, sich bei uns sicher zu fühlen.
Wagner: Kurz bevor der Film Premiere gefeiert hat auf der CPH:DOX, wo er als bester dänischer Film und bester internationaler Film ausgezeichnet wurde, bin ich mit dem Film nach Chile geflogen, kurz bevor wegen der Corona-Krise alles geschlossen wurde. Aber wir hatten den Leuten in der Kolonie versprochen, den Film zuerst ihnen zu zeigen, bevor er das erste Mal öffentlich gezeigt wird. Das mag nur ein Detail sein, aber sagt viel über unsere Vorgehensweise aus, die sehr viel Wert auf einen respektvollen Umgang legt, was die Bewohner der Kolonie auch gemerkt haben, weshalb sie sich uns gegenüber auch so öffneten. Die Vorführung war dann ein voller Erfolg und die Menschen, die aus allen Spektren der Kolonie kamen, haben sehr positiv auf den Film reagiert. Sie waren sehr berührt und tief ergriffen.
Hougen-Moraga: Ich konnte bei der Vorführung leider nicht anwesend sein, weil ich mich um unsere Kinder kümmern musste und in Amsterdam das Color Grading des Films überwachte. Was Estephan, der mich kurz nach der Vorführung anrief, auch noch mitteilte, war, dass der Film einen Dialog ermöglichte, denn es folgte ein langes Gespräch, in dessen Folge viele Menschen nicht nur Fragen stellten, sondern sich auch gegenseitig ansprachen und mit anderen in Konversation treten wollten.
Wagner: Ich kann mich an einen Mann Mitte 90 erinnern, der eine lange Rede gehalten hat darüber, dass er nun einsieht, er sei auch einer derjenigen gewesen, die anderen Leid verursacht haben. Es war so, also ob ihm der Film gezeigt hätte, wie viele Menschen auch heute noch diesen Schmerz in sich tragen und er würde sich wünschen, dass die Betroffenen mit ihm darüber sprechen würden.
Im Film gibt es einen Moment, in dem einer Ihrer Gesprächspartner bemerkt, dass Sie wahrscheinlich beim Filmen beobachtet werden. Haben Sie sich beim Drehen des Films generell beobachtet gefühlt und, wenn ja, hat es den Dreh beeinflusst?
Hougen-Moraga: Wir haben eine solche Beobachtung, wenn sie denn je stattfand, nicht bemerkt. Das Land der Kolonie umfasst die gewaltige Fläche von 14.000 Hektar, aber die Fläche, auf der die Menschen wohnen, ist vergleichsweise klein und um in dieses Wohngebiet zu kommen, muss man durch eine Schranke, was man auch im Film sehen kann. Die Kolonie weiß also, wer ihr Gebiet betritt und wer es wieder verlässt und sie haben uns immer gesehen, wenn wir dort gefilmt haben. Am Anfang haben wir immer um Erlaubnis gefragt, doch mit der Zeit brauchten wir das nicht mehr, weil die Menschen uns zu diesem Zeitpunkt bereits vertrauten. Wenn wir mit Acki, dem Mann, auf den Sie in Ihrer Frage anspielen, unterwegs waren, fühlten wir uns schon beobachtet. Aber das hat uns nicht abgehalten, denn unser Projekt sollte allen Teilen der Kolonie eine Stimme geben, auch jemandem wie Acki.
Wagner: Es kann gut sein, dass wir bespitzelt oder beobachtet wurden, aber wenn es so war, haben wir uns bemüht, uns davon freizumachen und den Menschen offen zu begegnen. Wir wollten uns vom ersten Tag in der Kolonie an von jeglichen Vorurteilen freimachen und den Menschen auf Augenhöhe begegnen.
Neben den Gesprächen spielt vor allem die Landschaft der Kolonie eine große Rolle in Ihrem Film. Bisweilen erinnern die Aufnahmen etwas an die Tradition des deutschen Heimatfilms. Wie kam es zu diesen Aufnahmen und welchen Stellenwert haben sie in Songs of Repression?
Wagner: Wir hatten verschiedene Referenzen für diese Bilder, wobei der Heimatfilm eine war. Teils haben wir uns mit der Ästhetik von Postkarten beschäftigt, die nach dem Klischee, alles ins perfekte Licht zu rücken, funktionieren. Wir haben uns hier Postkarten aus Tirol und Österreich als Referenz genommen, weil diese dieses Klischee auf die Spitze trieben. Aber dies war nicht einfach nur eine ästhetische Entscheidung, denn sie war mit einem wichtigen Hintergrund verbunden. In der Vergangenheit – und bisweilen auch in der Gegenwart – beruhte die Existenz der Kolonie auf einer Darstellung von sich selber, die nicht der Wirklichkeit entsprach. Damit will ich sagen, es wurde immer das Schöne in den Vordergrund gestellt und so sehr aufgeblasen, dass man den Hintergrund, das, was wirklich dort geschah, eben nicht mehr sehen konnte. Helga, eine der Gesprächspartner im Film, erzählt an einer Stelle, wie immer alles sehr schön gewesen war, vom Krankenhaus bis zur Schule, aber alles immer vor diesem sehr dunklen Hintergrund. Die Landschaften im Film sollen dieses vordergründig sehr Schöne oder Paradiesische, wie die Touristen sagen, darstellen, wovon man sich sehr leicht blenden lassen kann.
Es ist eine Landschaft, die in gewissem Sinne, eine Freiheit symbolisiert, aber auch wieder auf jene Mechanismen der Repression verweist.
Hougen-Moraga: Diese Landschaft, diese Erde war Zeuge der Dinge, die in der Kolonie stattgefunden haben. Wenn man in diese Natur und deren Schönheit blickt und auf deren Geräusche hört, kann man sich eine eigene Geschichte dieser Landschaft denken.
Was wäre der Gedanke, der am Ende des Films im Kopf des Zuschauers bleiben sollte? Welchen Denkprozess hoffen Sie anzustoßen?
Hougen-Moraga: Wir hoffen, dass der Film zeigt, was passiert, wenn man Traumata nicht verarbeitet, über Generationen hinweg, auf individueller aber auch kollektiver Ebene. Es geht auch darum, inwiefern solche Prozesse des Nicht-Verarbeitens in totalitären Systemen vorliegen und dazu beitragen, dass es solche immer wieder gibt, wenn es keinen Raum zum Dialog und zur Wiedergutmachung gibt. Wir hoffen, dass das Publikum des Films dies mitnimmt.
Wagner: Ich glaube, es hat viel damit zu tun, wer den Film sieht und wo man ihn sieht. In Deutschland haben die Zuschauer oft ein Vorwissen über die Kolonie durch die Medien und vielleicht werden sie den Film deswegen konkreter sehen, wenn man das so sagen kann, weil sie sich über diesen konkret mit der Geschichte der Kolonie auseinandersetzen. Wenn man nichts über den Hintergrund des Films weiß, dann ist die Geschichte der Kolonie eigentlich nur ein Beispiel. Es könnte sich um ein Land handeln, dass nach einem totalitären System regiert wird, aber es könnte auch eine Familie sein, in der das Handeln des pädophilen Onkels jedem bekannt ist, aber unter den Tisch gekehrt wird. Der Film öffnet sich für viele solcher Geschichten, die nicht konkret mit diesem Ort verknüpft sind. Hoffentlich kann jeder Zuschauer, unabhängig vom Land, in dem er oder sie lebt, erkennen, dass dies eine Geschichte ist, die weit über die Grenzen der Kolonie hinausgeht.
Hougen-Moraga: Über den Verlauf des Films empfindet man Sympathie mit den Menschen, die vor der Kamera ihre Geschichten erzählen. Während des Drehs haben Estephan und ich uns immer wieder gefragt, was wir an ihrer Stelle gemacht hätten und wie wir reagiert hätten, hätten wir zu dieser Zeit, an diesem Ort und unter diesem System gelebt.
Wagner: Auch um unsere eigenen Vorurteile abzubauen haben wir uns diese Fragen immer wieder gestellt, denn was wären wir für Menschen geworden, wenn wir so aufgewachsen wären, ohne jegliche Referenz zum Rest der Welt? Die, die heute alt sind in der Kolonie, leben seit 50 Jahren in Chile, sprechen aber nicht ein Wort Spanisch. Oft wenn wir mit ihnen filmten, fragten wir uns selbst, wie wir heute wären, nach all den Ereignissen und nach dem Tod Paul Schäfers, nach dem alle die Möglichkeit hatten auszubrechen aus der Kolonie, es aber viele nicht taten. Natürlich würde man gerne jemand sein, der sofort ausbricht oder schon vorher eine Revolution angestiftet hätte, aber man weiß es letztlich nicht. Das sind spannende Gedanken und Fragen.
Es ist auch spannend, sich zu fragen, ob man, trotz der liberalen Werte, mit denen man aufgewachsen ist, sich ein Kollektiv wie die Kolonie nicht doch sehr anbietet und man gewillt ist viele der Rechte, die man genießt für die Gemeinschaft aufzugeben.
Wagner: Absolut. Wenn man alleine betrachtet, wie sich durch COVID-19 die globalen gesellschaftlichen Strukturen verändert haben und man das auch hinnimmt als eine Notwendigkeit, der man sich unterzuordnen hat wie Magdalena und Georg, das Ehepaar, dem wir in Songs of Repression begegnen, es betonen. Wenn man dies aber in ein totalitäres Licht rückt, hat eine solche Haltung ganz andere Konsequenzen.
Da wird dann der Mundschutz zum metaphorische Maulkorb.
Wagner: Ganz genau. (lacht)
Vielen Dank für das nette Gespräch.
(Anzeige)