Der poetische Dokumentarfilm This Train I Ride des französischen Regisseurs Arno Bitschy zeigt in beinahe willkürlich erscheinenden Ausschnitten Momentaufnahmen aus dem Leben zweier Frauen auf der Suche nach Freiheit. Die beiden sind sogenannte „train hoppers“ und reisen illegalerweise auf Güterzügen quer durch die USA.
Gegenbilder einer Männerwelt
Die Eisenbahn und das Medium Film sind in ihrer historischen Entstehung eng miteinander verknüpft. Eine entscheidende Parallele ist dabei das ähnliche Dispositiv, eröffneten doch beide ihren Passagieren bzw. Zuschauern eine seinerzeit vollkommen neue Seherfahrung. Wenig überraschend also, dass der Zug selbst einen beliebten Topos der Filmgeschichte darstellt. Fast genauso alt wie die Eisenbahn ist das Phänomen des „train hopping“. Sogenannte „Hobos“, in den allermeisten Fällen Männer, reisen so kostengünstig durch das Land. Arno Bitschys Dokumentarfilm This Train I Ride stellt der Kulturgeschichte dieser Männerwelt unabhängig voneinander die konkreten Beispiele dreier weiblicher train hopper entgegen: Christina, Karen und Ivy gehören verschiedenen Generationen an und haben ihre jeweils ganz eigene Geschichte, doch sie teilen die Leidenschaft für das train hopping und das Streben nach Freiheit.
Im Fluss der Bilder
Die 30-jährige Christina geht einem festen Job als Schweißerin nach und möchte daher unerkannt bleiben. Die wackelige Handkamera, geführt von Bitschy selbst, reist mit ihr auf dem Zug und lässt in erster Linie die Bilder, die mal schnell, mal langsam vorbeiziehende Landschaft, für sich sprechen. Dieses Vertrauen auf die Macht der Bilder ist begründet; in ihrem konstanten Fluss erzeugen sie eine ästhetische Sogwirkung. Auf der Tonebene wechseln sich Ruhe und (Zug-)Lärm ab. Christinas vioce-over wird nur sehr spärlich eingesetzt, etwa wenn sie erzählt, ihr Leben lang habe man ihr gesagt, sie könne dies oder jenes nicht tun, weil sie „ein Mädchen“ sei. Am (zeitweisen) Hobo-Leben schätzt sie in erster Linie die selbst auferlegte Einsamkeit und das damit einhergehende Gefühl der Freiheit. Diese einzigartige Erfahrung habe ihr Leben geändert – ein Satz, den man so oder so ähnlich im Film noch öfter hören wird.
Der Weg ist das Ziel
Das Geschehen wird in This Train I Ride nur selten geografisch verortet. Dies geschieht bewusst, ist es doch gerade die offenbar ziellose Reise ins Unbekannte, die für die Hobos den Reiz ihres Lebensstils ausmacht. Dieser Ansatz begründet auch die vergleichsweise lose und offene narrative Struktur des Films. Die drei Protagonistinnen werden nicht in ein erzählerisches Korsett gezwängt; was sie von sich preisgeben und welche Geschichte sie erzählen, bleibt ihnen scheinbar? immer selbst überlassen. Während man von Christina so kaum etwas erfährt, vertraut sich die 20-jährige Karen dem Regisseur und seiner Kamera an. Das train hopping war für sie in erster Linie eine Möglichkeit, der langweiligen Gleichförmigkeit des spießbürgerlichen Lebens zu entkommen. Ihre Eltern, erzählt sie, seien trotz materiellen Wohlstands stets unglücklich gewesen. Karens alternativer Lebensentwurf setzt dagegen auf freiwilligen Verzicht von vermeintlichem Komfort – ein nomadisches, aber „echtes“ Leben. Dabei lerne man sich selbst kennen und insbesondere, sich selbst zu vertrauen.
Der Preis der Freiheit
Eine Vorreiterin der weiblichen Hobos ist die 40-jährige Ivy, die das train hopping bereits mit 16 entdeckte und sich nun daran zurückerinnert. Ungefährlich sei es damals wie heute nicht gewesen. Neben der vielzitierten Freiheit und dem Abenteuer sei das illegale Mitfahren auf Güterzügen aber auch schlicht eine finanzielle Notwendigkeit gewesen, um mobil zu sein. Inzwischen wohnt sie in San Francisco, ist sozusagen „angekommen“, allerdings ohne einen spießbürgerlichen Lebensstil zu pflegen. Sie engagiert sich in ihrer community und versucht so, die Errungenschaften und das Erbe der counter culture zu verteidigen und zu bewahren. Wie für Karen spielt auch für Ivy der familiäre Hintergrund eine besondere Rolle. Die Verlockungen der Sesshaftigkeit gehen an Ivy (wie übrigens auch an der jungen Karen) nicht spurlos vorbei. Insbesondere ist es aber die Gemeinschaft, das Miteinander, das ihr wichtig ist. Denn der Preis der Freiheit, das wird in allen der drei Geschichten klar, ist die Einsamkeit. Der Magie flüchtiger Begegnungen steht die Unmöglichkeit entgegen, langfristige Beziehungen und Gemeinschaften aufrechtzuerhalten.
(Wert-)Frei
Trotz existenziell anmutender Themenkomplexe wie Einsamkeit, Trost und Freiheit ist This Train I Ride angenehm unprätentiös. Regisseur Bitschy begleitet seine Protagonistinnen, kommt ihnen nahe, aber lässt ihnen auch immer den nötigen Freiraum. Mitunter stellt er sogar direkte Fragen, folgt niemals sklavisch bestimmten dokumentarischen Paradigmen und Modi. Dabei bleibt der Film, und das ist vielleicht sein größtes Verdienst, jederzeit wertfrei. Weder romantisiert er den porträtierten Lebensstil, noch verurteilt er ihn. So stellt sich, in Kombination mit den poetischen Bildern, eine ganz selbstverständliche Intimität ein. Dazu trägt nicht zuletzt auch der subtile und doch unverkennbare Score von Warren Ellis, dem kongenialen musikalischen Partner Nick Caves und Kopf von dessen Band The Bad Seeds, bei.
OT: „This Train I Ride“
Land: Finnland, Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Arno Bitschy
Drehbuch: Arno Bitschy
Musik: Warren Ellis
Kamera: Arno Bitschy
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