Die Nahrung ist knapp im ganzen Land, überall müssen die Menschen darum kämpfen, um noch irgendwie über die Runden zu kommen. Und so machen sich eines Tages die junge Gretel (Sophia Lillis) und ihr kleiner Bruder Hänsel (Samuel J. Leakey), verstoßen von der eigenen Mutter, auf den Weg, um irgendwo nach Arbeit zu suchen. Während sie umherstreifen, nimmt Hänsel den Geruch frisch gebackenen Kuchens wahr. Von Neugierde und Hunger getrieben finden die beiden ein abgelegenes Haus, gefüllt mit den größten Leckereien, die man sich nur vorstellen kann. Eine alte, freundliche Frau (Alice Krige) lebt darin, lädt die zwei ein, doch eine Weile zu bleiben und sich zu stärken. Tatsächlich finden sie hier eine neue Heimat, arbeiten im Haushalt, hacken draußen Holz. Doch mit der Zeit wächst in Gretel die Vermutung, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht …
Anfang der 2010er Jahre hatte Hollywood das klassische Märchen für sich entdeckt, versuchte aus den bekannten Geschichten neue Blockbuster zu zimmern. Mit den Vorlagen ging man dabei nicht unbedingt zimperlich vor. Titel wie Snow White & The Huntsman und Red Riding Hood versuchten seinerzeit mit bekannten Namen und viel Action Kasse zu machen. Davon hat man sich inzwischen wieder verabschiedet, weshalb die Versuchung groß ist, Gretel & Hänsel von vornherein als einen Anachronismus abzutun. Braucht jemand allen Ernstes im Jahr 2020 noch eine neue Fassung von Hänsel & Gretel, jenem Märchen um zwei Kinder, die von einer hungrigen Hexe angelockt werden?
Selbst ist die Frau
Dabei zeigt der Titel schon, dass man hier einen anderen Weg geht. Nicht allein, dass Gretel deutlich älter ist als Hänsel, anstatt ungefähr sein Alter zu haben wie in dem Volksmärchen. Sie steht auch im Mittelpunkt der Geschichte: Ihr Bruder ist mehr Anhängsel als gleichberechtigter Partner. Es ist ihre Aufgabe, sich um ihn zu kümmern, da es ansonsten niemand tut. Diese Umgewichtung geht mit einer deutlich feministischeren Interpretation einher. Männer gibt es in Gretel & Hänsel zwar auch, können die Form hilfsbereiter Jäger oder gieriger Mädchenverschlinger annehmen. Das von Rob Hayes verfasste Drehbuch interessiert sich aber nicht für sie. Stattdessen handelt der Film von sexuellem Erwachen und der Suche nach einem eigenen Weg durch die oft fremdbestimmte Welt.
Mit Hänsel und Gretel: Hexenjäger hat das hier deshalb so gar nichts gemeinsam, trotz einer theoretisch gemeinsamen Vorlage. Stattdessen bietet sich der Vergleich zu Die Zeit der Wölfe an. Ähnlich zu dem Kultfilm aus dem Jahr 1984 gibt es hier eine traumartige Atmosphäre, wird ein klassisches Märchen zu einer sexuell konnotierten Coming-of-Age-Geschichte umgedeutet. Für Gretel geht es hier eben nicht nur darum, den Fängen der Hexe zu entkommen und den Bruder zu retten. Stattdessen steht sie hier an der Schwelle vom Kind zur Erwachsenen, muss sich selbst finden inmitten der Festgelage und nächtlichen Albträume. Wird sie die Mutter? Wird sie die Hexe? Etwas ganz anderes?
Mehr unheimlich als spannend
Gretel & Hänsel richtet sich damit eher an ein Arthouse-Publikum, weniger an Horrorfans. Dann und wann versucht Regisseur Osgood Perkins (Die Tochter des Teufels) zwar auch die zu bedienen, mittels herkömmlicher Jump Scares. Doch die sind eher selten und passen nicht so recht zu einem Film, dem es sehr viel mehr auf die Atmosphäre als auf die Handlung ankommt. Tatsächlich spannend sind die Ereignisse nicht, zumal die Geschichte trotz der Änderungen bekannt ist. Das Werk ist vielmehr unheimlich, genießt das Spiel mit den Schatten und Andeutungen, das ominöse Gefühl, dass hinter allem deutlich mehr steckt, als es nach außen den Anschein hat. Das Tempo ist dabei sehr gemächlich, trotz der kurzen Laufzeit von rund anderthalb Stunden dürfte es so manche im Publikum geben, denen das alles viel zu lange dauert.
Doch wer sich auf diese Art Märchen einlassen kann, der wird auf vielfache Weise verzaubert. Gerade audiovisuell ist Gretel & Hänsel ein Lichtblick inmitten des oft düsteren Horroreinerleis, das sich das Jahr über auf den Leinwänden herumtreibt. Kameramann Galo Olivares, der zuvor hauptsächlich Kurzfilme gedreht hat, hat wunderbare Bilder eingefangen, die nicht von dieser Welt sind. Sehr schön ist auch das Hexenhaus an sich, dessen moderne Architektur so gar nichts mit den Knusperhäuschen von einst gemeinsam hat und das innen sehr viel geräumiger ist als außen – was die surreale Stimmung noch erhöht. Und auch der Synthiescore von Robin Coudert (Revenge) hat seinen Anteil daran, dass alles etwas unwirklich erscheint. Die etwas aufgesetzten Voice-overs sind weniger beglückend, das Ende etwas überhastet. Ansonsten ist der Film aber sehr sehenswert, selbst wenn er das Publikum mit Sicherheit spalten wird.
OT: „Gretel & Hänsel“
Land: Kanada, USA, Irland
Jahr: 2020
Regie: Oz Perkins
Drehbuch: Rob Hayes
Musik: Robin Coudert
Kamera: Galo Olivares
Besetzung: Sophia Lillis, Sam Leakey, Alice Krige, Jessica De Gouw
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