Eigentlich hätten die drei Geschwister ja gut und gerne darauf verzichten können, zu ihrem Großvater aufs Land zu fahren. Was sollen sie denn dort, mitten im Nirgendwo und ohne gute Verbindung? Zumal der alte Herr ein bisschen seltsam ist. Tatsächlich ist der Einstieg ins Leben in der Provinz nicht so erfolgsversprechend, umso mehr, da die drei immer wieder gezwungen werden, auf der Farm zu arbeiten, tagein tagaus Ställe ausmisten müssen. Doch dann kommt eines Tages Bewegung in die Einöde, als die Milchkuh des Großvaters ausbüxt und ihnen nur wenige Stunden bleiben, um sie wiedereinzufangen – sonst explodiert der Euter. Außerdem sind sie nicht die einzigen, die auf der Suche nach dem Wiederkäuer sind, hat der noch ältere Nachbar, der einst selbst ein Milchbauer war, doch noch eine Rechnung offen …
Das Szenario ist nun nicht mehr das frischeste: Ein paar Kids, die im Alltag auf ihre Handys starren und dabei die Welt aus den Augen verlieren, werden zu einem Aufenthalt in der Provinz gezwungen. Da weiß man doch schon im Vorfeld, dass die jungen Protagonisten und Protagonistinnen eine Wandlung durchmachen werden und die Natur zu lieben lernen – Filme wie Der Junge und die Wildgänse, Bruno bei den Wölfen oder Flugmodus haben es schließlich vorgemacht. Zu einem gewissen Teil bedient Old Man – The Movie dieses Klischee dann auch, der Aufenthalt wird den Horizont aller Beteiligten mächtig erweitern – nur nicht auf die Weise, die man im Vorfeld gedacht hat.
Schwieriger Anfang
Tatsächlich dauert es auch eine Weile, bis der Film mal ein wenig an Fahrt aufnimmt. Während die gleich zu Beginn erzählte Geschichte rund um den Milchbauer, der von einem explodierenden Kuheuter in Mitleidenschaft gezogen wurde, noch irgendwie amüsant sind, sind die meisten Witze ebenso eintönig wie die Arbeiten, welche die Kinder zu vollrichten haben. Sie sind auch nur dann lustig, wenn man Furzen oder große Scheißhaufen witzig findet. Ein bisschen wird das zwar noch durch die Stop-Motion-Optik abgefangen. Oskar Lehemaa und Mikk Mägi, die zusammen Regie führten und das Drehbuch schrieben, taten sich und dem Publikum jedoch mit dem Anfang keinen wirklichen Gefallen.
Ist aber erst mal die Katze aus dem Sack bzw. die Kuh aus dem Stall, nimmt Old Man – The Movie mächtig Fahrt auf. Da wäre zum einen die Spannung, welche durch den bedrohlich anwachsenden Euter mitwächst – geruhsames Landleben sieht anders aus. Zum anderen mischt ja der groteske Alte von nebenan mit, der nicht nur psychisch durch seine explosiven Erfahrungen in Mitleidenschaft gezogen wurde, sondern auch körperlich einige Veränderungen zu ertragen hat, die gelinde gesagt grotesk sind. Und wer diese punktuelle Irritation schon für den Höhepunkt hält, der muss sich auf Ideen gefasst machen, die von Minute zu Minute abgefahrener werden.
Ein grotesker Einfall nach dem anderen
Was gerade zu Beginn, nicht zuletzt wegen des Settings und der Stop-Motion-Technik, wie eine billige Kopie von Shaun das Schaf – Der Film wirkt, verwandelt sich in einen der sonderbarsten Animationsfilme, die zuletzt veröffentlicht wurden. Er solle mal etwas anders an die Sache herangehen, muss sich der Großvater von seinen Enkeln anhören, gefolgt von einem „aber nicht SO anders.“ Old Man – The Movie richtet sich deshalb an ein Publikum, das einen absurden, abwegigen Humor mag und keine Angst dabei hat, sich zwischendurch mal schmutzig zu machen: Die estnische Produktion wühlt sich genüsslich im Dreck, teilweise auch im Blut – für jüngere Zuschauer und Zuschauerinnen ist die zuweilen erstaunlich brutale Komödie so gar nicht geeignet.
Das ist dann nicht unbedingt feinsinnig. Auch clever würde man die Witze eher nicht nennen, so subversiv sie sicherlich sind. Im Gegensatz dazu ist die visuelle Umsetzung erstaunlich kunstvoll. Der estnische Beitrag vom Annecy Animationsfestival 2020 schafft auch ohne große Effekte oder ein internationales Budget eine ansehnliche Optik mit bemerkenswert flüssigen Animationen und ungewöhnlichen Designs. Wer Stop-Motion-Filme mag oder abgefahrene Komödien, der sollte sich Old Man – The Movie nicht entgehen lassen. Wer mit beidem etwas anfangen kann, für den ist es sogar ein Muss. Dass der Film auf kurzen YouTube-Videos basiert, das merkt man ihm zwar schon an, gerade in Hinblick auf die sehr episodenhafte Erzählweise. Spaß macht das Ergebnis dennoch.
OT: „Vanamehe film“
Land: Estland
Jahr: 2019
Regie: Oskar Lehemaa, Mikk Mägi
Drehbuch: Oskar Lehemaa, Mikk Mägi, Peeter Ritso
Musik: Sten-Olle Moldau
Annecy 2020
Fantasia International Film Festival 2020
Fantoche 2020
SLASH Filmfestival 2020
Sitges 2020
Amazon (DVD „Old Man – The Movie“)
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