Als ihr Vater eines Tages nicht mehr nach Hause kommt und sich schließlich herausstellt, dass er tot ist, liegt es an seinen beiden Söhnen Alfredo (Francisco Barreiro) und Julián (Alan Chávez), nun für die Familie zu sorgen. Neben dem Geschäft ihres Vaters – einem Marktstand, an dem sie Uhren reparieren – müssen sie sich um ein geheimnisvolles Ritual kümmern, für das ihre Mutter (Carmen Beato) ein Opfer verlangt. Während sie vom Markt vertrieben werden nach einer Prügelei Juliáns mit einem wütenden Kunden, sind auch ihre Versuche, ein solches Opfer zu finden erfolglos. Als ihre Schwester Sabina (Paulina Gaitán) ihnen helfen will, lehnen beide Brüder ab, zwischen denen sich mittlerweile eine Rivalität um die Führung der Familie entwickelt hat. Schließlich verschlimmert sich das Verhältnis der beiden Brüder durch die unberechenbaren, brutalen Ausraster Juliáns, der, entgegen den Wünschen seiner Mutter, eine Prostituierte entführt und sie als Opfer für das Ritual präsentiert. Während der mit der Situation überforderte Alfredo beschließt, nun doch alleine auf die Jagd nach einem Opfer zu gehen, haben zwei eher zwielichtige Polizisten allerdings bereits die Spur nach den zwei Unbekannten aufgenommen, welche die Prostituierte entführt haben.
Sich gegenseitig essen
Mit Wir sind was wir sind legte der mexikanische Regisseur Jorge Michel Grau im Jahre 2010 sein viel beachtetes Spielfilmdebüt vor, welches auf vielen internationalen Festivals wie Fantasia oder dem Film 4 FrightFest lief. Abgesehen einmal davon, dass sich Grau schon immer einmal im Horrorgenre austoben wollte, interessierte ihn zudem die gesellschaftskritische Komponente der Geschichte um eine Familie von Kannibalen in seiner Heimat. Entstanden ist dabei ein sehr düsterer Vertreter des Genres, dessen ungeschöntes Bild Mexikos eine Welt zeigt, die sich durch Gewalt, Elend und Ausbeutung definiert.
Vielleicht ist die größte Überraschung an Wir sind was wir sind, wie blutarm der Film letztlich ist. Bedenkt man, dass der Film sich mit Kannibalismus befasst, so hätte man schon alleine deswegen einen wesentlich blutigeren Film erwartet, als Graus Werk tatsächlich ist. Dessen Drehbuch versteht Kannibalismus allerdings noch auf eine andere Weise, die sich schon in den ersten Minuten erschließt, in denen der Vater der Familie in einem Einkaufszentrum tot zusammenbricht. Zwei Wachleute, dicht gefolgt von einer Reinigungskraft, welche die wenigen Blutspuren beseitigt, lassen die Leiche schnell verschwinden, sodass die Kunden in Windeseile wieder einkaufen können und die blitzsaubere Fassade des Einkaufszentrums keine Risse bekommt. In diesem Zynismus zeigt sich der thematische Kern Graus Films, der vorerst diese Welt nicht mehr betreten wird und sich nur noch in den Elendsvierteln der Stadt abspielt, in der Welt eben jener Menschen, die, frei nach dem Ausspruch Rainer Werner Fassbinders, ihre eigenen Kinder frisst.
Während des Films wird man immer wieder Zeuge dieses fast schon dokumentarisch anmutenden Ansatzes von Graus Inszenierung. Das Wüten der Familie, die sich ihre Opfer unter den Prostituierten der Stadt oder unter den Bettlern sucht, ist nur eins von vielen Phänomenen in einer von Gewalt geprägten Welt, in der das Fehlen gerade dieser Menschen nicht weiter auffällt. Auf sich alleine gestellt haben die Menschen begonnen, sich selbst zu verspeisen in einem gnadenlosen Überlebenskampf, der keine Gnade kennt. Passend dazu inszeniert Grau zusammen mit Kameramann Santiago Sanchez diese Stadt als einen Moloch aus Dreck, flackernden Lichtern und dunklen Gassen, kurzum einen menschenfeindlichen Ort.
Familienbande
Neben diesen Themen konzentriert sich die Handlung auf den immer rücksichtsloser geführten Machtkampf innerhalb der Familie, in der sich die beiden Brüder nicht nur gegeneinander positionieren, sondern auch ihre Mutter, welche ihre Kinder weiterhin mit eiserner Hand gewillt ist zu regieren. Carmen Beato spielt die Matriarchin, die ihre Herrschaft verteidigt wie auch ihre blutigen Traditionen, denen sich die Kinder, im Vertrauen auf ihre Führung, unterwarfen. Neben dem von Alan Chávez mit brutaler, unberechenbarer Energie gespielten Julián ist es vor allem Francisco Barreiros sensibles Spiel, welches das Dilemma eines Menschen zeigt, der sich, entgegen seinen Sehnsüchten, in der Rolle des Familienoberhauptes wiederfindet und sich gegenüber seinem Bruder verteidigen muss.
Letztlich ist die Familie ein Spiegel des Elends und der Rücksichtslosigkeit der Welt dort draußen. Aufs eigene Überleben getrimmt wird keine Schwäche geduldet, wird jeder Anflug von Sensibilität ausgemerzt, was den Zuschauer immer auf einer Distanz bewahrt zu diesen Figuren und ihrer Welt, deren Abgründe vielleicht überhöht dargestellt sein mögen, deren Kampf ums Überleben aber erschreckend real anmutet.
OT: „Somos lo que hay“
Land: Mexiko
Jahr: 2010
Regie: Jorge Michel Grau
Drehbuch: Jorge Michel Grau
Musik: Enrico Chapela
Kamera: Santiago Sanchez
Besetzung: Carmen Beato, Daniel Giménez Cacho, Paulina Gaitán, Francisco Barreiro, Alan Chávez
Cannes 2010
Fantasy Filmfest 2010
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