Als die Verlegerin Helga Pato (Pilar Castro) in den Zug steigt, konnte sie kaum wissen, dass sie ausgerechnet dort die Geschichte ihres Lebens finden wird. Genauer ist es der Psychiater Ángel Sanagustin (Ernesto Alterio), der sie in ein Gespräch verwickelt, um ein wenig die Zeit totzuschlagen. Und so erzählt er ihr von Martín Urales de Úbeda (Luis Tosar), der als Soldat seinem Vaterland diente, bis ein schrecklicher Unfall alles veränderte. So dachte zumindest seine Familie. Doch während Helga gebannt lauscht, stellt sie fest, dass vieles nicht so ist, wie es erscheint. Ehe sie es sich versieht, wird sie selbst in die eigenartigen Vorkommnisse hineingezogen, von denen der Fremde ihr erzählt und bei denen sie bald schon nicht mehr weiß, was real ist und was nicht …
Eigentlich soll eine Zugreise ja in erster Linie praktisch sein und die Leute möglichst schnell und unkompliziert von einem Ort zum nächsten bringen. Wer aber häufiger mit der Bahn unterwegs ist, der weiß natürlich, dass diese vermeintlich simple Angelegenheit zu einem wahren Abenteuer werden kann. Das betrifft nicht nur die geradezu sprichwörtlichen Verspätungen, Umleitungen oder technischen Probleme, die immer wieder aus heiterem Himmel auftreten. Es sind gerade die Menschen und zum Teil kuriosen Begegnungen, die man während der Fahrt zuweilen hat, welche einem das Gefühl geben können, durch einen Spiegel getreten zu sein, auf dessen anderen Seite eine unerklärliche Welt wartet.
Eine Reise durch alle Genres
Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden ist quasi der Film zu diesem Phänomen, wenn eine zunächst harmlos erscheinende Zufallsbegegnung alles in Frage stellt, was man zu wissen glaubt. Das beginnt schon bei der Frage, welchem Genre das hier eigentlich angehört. Schwarze Komödie wird da oft die Antwort lauten, was sicherlich stimmt, gleichzeitig aber auch wieder nicht. Weil das nur ein Teil einer Wahrheit ist, die ihre Kraft aus dem Geschichtenerzählen erhält, nicht aus der Realität. Die Welt selbst zu einem kreativen Prozess wird, an dem wor teilhaben können. Eigenartig geht es schon los, wenn die erste Episode sich nach und nach in einen Mystery-Thriller verwandelt. Später lernen wir Menschen und Schicksale kennen, die gleichermaßen bizarr wie bewegend sind, im Herzen ein Drama und dabei doch irgendwie komisch.
Um sich tatsächlich von Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden unterhalten lassen zu können, braucht es jedoch ein paar Voraussetzungen, die über ein gültiges Ticket hinausgehen. Zum einen darf der eigene Magen nicht zu empfindlich sein. Das betrifft vor allem die zweite der drei Episoden, die einem schon sehr viel abverlangt. Dass der Film letztes Jahr auf dem Grenrefestival Sitges lief und eine Freigabe ab 18 Jahren hat, kommt nicht von ungefähr. Und auch der Auftritt von Luis Tosar, der einem hiesigen Publikum vor allem für Genre-Werke wie Sleep Tight, Shrew’s Nest oder Auge um Auge bekannt ist, dürfte entsprechend vorgebildete Zuschauer und Zuschauerinnen darauf vorbereiten: Vorsicht, hier geht es düster zu! Das gilt mit Abstrichen auch für die erste Episode, wobei dort der Horror nur erzählt, nicht gezeigt wird, man sich also „nur“ mit Kopfkino auseinandersetzen muss.
Wer ist wer?
Doch selbst wer in dieser Hinsicht abgehärtet ist und sich nicht so leicht schocken lässt, wird hier an manchen Stellen große Augen machen. Oder ein verwirrtes Gesicht. Die Adaption eines Romans von Antonio Orejudo steht eindeutig in der Tradition des surrealistischen Kinos à la Luis Buñuel, wenn die Geschichte mit der Zeit immer verworrener wird, einzelne Handlungsstränge auf kuriose Weise ineinandergreifen, mutmaßliche Sicherheiten aufgelöst werden. In Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden ist letztendlich nichts sicher, nicht die Menschen, nicht deren Identitäten. Immer wieder wird im verwinkelten Langfilmdebüt von Regisseur Aritz Moreno getauscht und gewandelt, bis man nicht mehr weiß, wer wer ist, wer Erzähler und Erzählter, auf welcher Seite der Geschichte wir uns gerade befinden.
Dass das schwarzhumorige Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden so sehenswert ist, liegt aber nicht allein am labyrinthartigen Inhalt, der einen immer tiefer in den Abgrund führt. Das spielfreudige Ensemble, das sich komplett dem Wahnsinn hingibt ist ein weiteres Teil des schillernden Mosaiks. Und auch die audiovisuelle Gestaltung ist nie von dieser Welt. Javi Agirre Erauso (Der endlose Graben) wirbelt die Kamera umher, nutzt befremdliche Perspektiven, aber auch kunstvoll zusammengestellte Arrangements, welche dem Film eine traumartige Atmosphäre verleihen. Das Prinzip der ineinandergreifenden Geschichten geht zwar zum Schluss nicht ganz so auf wie erhofft, ist aber auf eine so wohlige und gleichzeitig unheimliche Weise verwirrend, dass man im Anschluss fast schon traurig ist, dass die Reise ein Ende gefunden hat. Denn ein vergleichbares Abenteuer erlebt man selbst als Vielfahrer nicht.
OT: „Ventajas de viajar en tren“
IT: „Advantages of Travelling by Traine“
Land: Spanien, Frankreich
Jahr: 2019
Regie: Aritz Moreno
Drehbuch: Javier Gullón
Vorlage: Antonio Orejudo
Musik: Cristóbal Tapia de Veer
Kamera: Javi Agirre Erauso
Besetzung: Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio, Quim Gutiérrez, Belén Cuesta, Macarena García
Wieso wählte er als seinen ersten Spielfilm eine Romanadaption? Und was hat er selbst so als Zugreisender erlebt? Diese und weitere Fragen haben wir Regisseur Aritz Moreno in unserem Interview zu Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden gestellt.
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Europäischer Filmpreis | 2020 | Beste europäische Komödie | Nominierung | |
Goya Awards | 2020 | Beste Nachwuchsregie | Aritz Moreno | Nominierung |
Bestes adaptiertes Drehbuch | Javier Gullón | Nominierung | ||
Bestes Szenenbild | Nominierung | |||
Bestes Make-up und Haare | Nominierung |
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