So richtig weiß Tomaz (Alec Secareanu) nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Immer noch ist der frühere Soldat von seiner Vergangenheit geprägt, die Erinnerungen an das Erlebte verfolgen ihn bis zu den Straßen Londons, auf denen er ein neues Zuhause gefunden hat. Doch vielleicht ist ihm das Glück nun hold. Schwester Claire (Imelda Staunton), die ihn aufgelesen und versorgt hat, bietet ihm an, bei Magda (Carla Juri) zu leben, gegen ein bisschen Hilfe. Diese könnte sie gut gebrauchen, befindet sich das Haus doch in einem erbärmlichen Zustand. Außerdem muss sie sich um ihre schwierige Mutter kümmern, die im Sterben liegt und viel Aufmerksamkeit einfordert. Zunächst fühlt sich Tomaz nicht wohl mit diesem Arrangement, stimmt letzten Endes aber zu – ohne zu wissen, worauf er sich dabei einlässt …
Dass es Regisseurinnen deutlich schwieriger haben, im Filmgeschäft Fuß zu fassen als ihre männlichen Kollegen, das ist nun nicht wirklich ein Geheimnis. Und auch wenn sich da in den letzten Jahren einiges getan hat, beispielsweise Festivals erkannt haben, dass da viel Nachholbedarf herrscht im Hinblick auf Gleichberechtigung, der Weg ist noch lang. Das gilt insbesondere für das Genrekino, wo Frauen nach wie vor sehr schlecht vertreten sind. Dann und wann gibt es natürlich schon Beispiele dafür, wie Filmemacherinnen aufsehenerregende Horrorwerke schaffen. Die Aufmerksamkeit hält meistens aber nur diesen einen Film an, bevor die Frauen dahinter wieder in der Versenkung verschwinden, trotz ihres Talentes von vielen ignoriert.
Der weibliche Blick in den Abgrund
Umso schöner war es, als auf dem Sundance Film Festival 2020 zwei weitere Künstlerinnen sich gewagt haben, das männlich dominierte Horrorgenre anzunehmen und darüber hinaus auch auf eine ganz eigene Weise für sich neu interpretierten. Der erste war Relic, in dem Natalie Erika James das klassische Haunted-House-Szenario mit einem Familiendrama um Demenz und Entfremdung kombinierte. Der zweite war Amulet von Romola Garai, die zuvor als Schauspielerin tätig war und hier ihr Debüt als Regisseurin und Drehbuchautorin abgab. Beide nahmen Vorgaben des Genres auf, besuchten bekannte Orte, suchten dort aber eigene Perspektiven, verbunden mit einer feministischen Aussage.
Beiden Filmen ist zudem gemeinsam, dass sie mehr Wert auf die Atmosphäre als auf die Handlung legen. So lässt sich Amulet viel Zeit dabei, eine unheilvolle Stimmung aufzubauen und das Haus bis in die letzte Ecke zu durchforsten. Geradezu genüsslich zeigt sie jede sich abblätternde Tapete, jeden Fleck, der sich irgendwo ausbreitet, bis hin zu einer höchst unappetitlichen Szene im Bad. Aber auch bei den Szenen am Esstisch, wenn der zuvor darbende Tomaz das grobe Mahl verschlingt, kennt Garai keine Zurückhaltung, zeigt eine Gier, die leicht verstörend ist. Sie belässt es jedoch bei diesen Bildern, ohne dass wirkliche Taten folgen würden. Gerade im Mittelteil, der von der langsamen Annäherung der beiden erzählt, geht es nur minimal weiter.
Auf Tuchfühlung mit fremden Gefangenen
Schade ist, dass Amulet die Verschnaufpause nicht nutzt, um etwa die Charakterisierung voranzutreiben. Der Film zeigt seine beiden Hauptfiguren als Gefangene, jeder auf seine Weise. Magda kann das Haus nicht verlassen, wird vergleichbar zu Eleonora aus Bis das Blut gefriert von einer sterbenden Mutter terrorisiert, die ihr kein eigenes Leben zugesteht. Tomaz wiederum wird von den Gedanken an einen vergangenen, nicht näher benannten Krieg heimgesucht, der sich immer wieder in Flashbacks manifestiert. In Albträumen, denen der Ex-Soldat durch Verdrängung und physische Hilfsmittel zu entkommen versucht, während Schwester Claire kryptische Warnungen mit auf den Weg gibt, es anderweitig zu versuchen. Es liegt eine Tragik über dem Haus, ein Fatalismus, der nur kurze Glücksmomente zulässt.
Doch gerade wenn man denkt, der Film würde sich seiner eigenen Faszination für das Traurige, Elende und Hässliche ergeben, dreht er richtig auf. Wie bei Relic gibt es zum Schluss noch mal Wendungen, „richtige“ Horrormomente und eine Lust am Bizarren und Symbolischen, wie man sie bei den männlichen Kollegen nur selten findet. Das wird sicher nicht überall gut ankommen, zumal Garai wenig Subtilität bei ihrem Kniff beweist. Aber es ist ein interessantes Debüt, voll eindringlicher Bilder und eines ausführlichen Sound Designs, welches die Erfahrung über alles stellt, unangenehm fesselt und auf den letzten Metern noch einmal mit einem Grinsen zu einem Tiefschlag ansetzt.
OT: „Amulet“
Land: UK, Vereinigte Arabische Emirate
Jahr: 2020
Regie: Romola Garai
Drehbuch: Romola Garai
Musik: Sarah Angliss
Kamera: Laura Bellingham
Besetzung: Carla Juri, Alec Secareanu, Imelda Staunton, Angeliki Papoulia
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