Eigentlich hatte David Copperfield (Jairaj Varsani) eine sehr schöne Kindheit. Bis zu jenem Tag, als seine verwitwete Mutter Clara (Morfydd Clark) beschloss, noch einmal neu zu heiraten und sich dafür einen absoluten Despoten aussuchte. Nachdem David mehrfach mit diesem aneinandergeraten ist, wird er fortgeschickt und soll nun in einer Flaschenfabrik arbeiten. Toll ist seine Zeit dort nicht, aber es gelingt dem Jungen, sich irgendwie durchzuschlagen und findet in dem völlig überschuldeten Mr. Micawber (Peter Capaldi) und dessen Familie einen Ersatz. Doch auch im Anschluss wird der mittlerweile zu einem jungen Mann herangewachsene David (Dev Patel) von diversen Schicksalsschlägen heimgesucht, in deren Folge er bei seiner Tante Betsey Trotwood (Tilda Swinton) und dessen exzentrischen Mitbewohner Mr. Dick (Hugh Laurie) landet und sich mit dem vermögenden James Steerforth (Aneurin Barnard) anfreundet …
Zum 150. Mal jährte sich kürzlich der Todestag von Charles Dickens. Doch noch immer werden die Bücher des englischen Schriftstellers eifrig gelesen, im akademischen, schulischen wie im privaten Bereich. Seine Romane, Novellen und Kurzgeschichten gehören zu den unbestrittenen Klassikern der Literaturgeschichte und wurden im Laufe der Zeit vielfach für Film und Fernsehen adaptiert. Er ist für düstere Dramen bekannt (Oliver Twist, Große Erwartungen), aber auch für sein unverwüstliches Läuterungsmärchen Eine Weihnachtsgeschichte über einen alten Geizkragen, dessen Herz zu Weihnachten von drei Geistern erweicht wird und er damit zu einem besseren Menschen wird.
Aus Spaß am Skurrilen
Während seine Werke dabei meistens ernst sind, geht es auch anders, wie das Beispiel David Copperfield zeigt. Wie diverse seiner anderen Romane, so wurde auch dieser als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht, bevor er am Ende als Buch zusammengefasst wurde. Und auch die Elemente des Bildungsromans, welche diverse Titel von Dickens prägen, lassen sich hier finden. Schließlich folgen wir dem Protagonisten von seiner frühen Kindheit an bis ins Erwachsenenalter, wenn er seiner Neigung folgend Schriftsteller wird. Nur dass dies teilweise auch sehr lustig sein kann, wenn der Autor seinen satirischen Neigungen nachgibt und die Welt von Copperfield mit zahlreichen skurrilen Gestalten bevölkert, die alle ihre Spleens und Abgründe mit sich herum tragen.
Der für seine Satiren bekannte Regisseur und Co-Autor Armando Iannucci (The Death of Stalin) nimmt bei seiner Umsetzung des Klassikers diese humoristischen Vorgaben dankbar auf und spitzt das Ganze auf eine Weise zu, dass man nicht anders kann, als mit weit aufgerissen Augen das Treiben auf der Leinwand zu verfolgen. Unterstützung erhält er dabei von einem durch die Bank fantastischen Ensemble, das die jeweiligen Sonderbarkeiten pointiert zur Schau stellt. Ob nun Tilda Swinton einen tierischen Kleinkrieg führt, Peter Capaldi auf warmherzige Weise jeden anbettelt, Hugh Laurie einen eigenen Verfolgungswahn pflegt oder Aneurin Barnard und Ben Whishaw jeweils auf ihre Weise verschlagene Antagonisten geben, jeder einzelne von ihnen bleibt einem in Erinnerung.
Keine Zeit, muss weiter!
Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil es sehr viele dieser Charaktere gibt und der Film ihnen oft nur wenig Zeit zugesteht. Aus gutem Grund: Zwei Stunden Laufzeit sind bei der Umsetzung eines über 600 Seiten starken Buches nicht sehr viel. In Folge hetzt David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück von Ereignis zu Ereignis, von Person zu Person, dass einem schon mal etwas schwindlig werden kann. Dazu trägt natürlich auch die episodenhafte Geschichte bei, die sich in erster Linie der Entwicklung der Hauptfigur verschrieben hat, weniger einem roten Faden. Geradezu willkürlich springt der Film hin und her, getrieben von einer manischen Rastlosigkeit, so als hätte er Angst, bei der nächsten Verabredung zu spät zu kommen und irgendwas zu verpassen.
Dass auf diese Weise einiges verlorengeht, lässt sich kaum vermeiden. Dickens’ Kommentare zur viktorianischen Gesellschaft beispielsweise werden von dem inhaltlichen, aber auch audiovisuell verspielten Wirbelwind verschluckt. Es bleibt auch wenig Raum, um den Figuren mehr Tiefe zu verleihen – wobei das ein Vorwurf ist, der schon dem Autor immer wieder gemacht wurde. Dafür ist die Tragikomödie, die auf dem Toronto International Film Festival 2019 Premiere hatte, ein umwerfender Spaß. Dev Patel (Lion – Der lange Weg nach Hause) füllt seine Figur mit einer Mischung aus Wärme, Neugierde und Kreativität, ein großer Junge, der sich in einer noch größeren und reichlich verwirrenden Welt irgendwie zurechtfinden muss. Dass er dies am Ende mit den Worten anderer schafft und einem fragmentarischen Konstrukt, das schon beim bloßen Anblick auseinanderfällt, trägt nur zu dem Charme eines märchenhaften Films bei, der alles begeistert in sich aufnimmt, mit einem unerschütterlichen Glauben daran, dass am Ende alles gut ausgehen kann, selbst wenn es nicht wirklich Sinn ergibt.
OT: „The Personal History of David Copperfield“
Land: UK, USA
Jahr: 2019
Regie: Armando Iannucci
Drehbuch: Armando Iannucci, Simon Blackwell
Vorlage: Charles Dickens
Musik: Christopher Willis
Kamera: Zac Nicholson
Besetzung: Dev Patel, Jairaj Varsani, Aneurin Barnard, Peter Capaldi, Morfydd Clark, Daisy May Cooper, Rosalind Eleazar, Hugh Laurie, Tilda Swinton, Ben Whishaw, Paul Whitehouse
Was hat ihn dazu gebracht, das bekannte Buch von Charles Dickens neu verfilmen zu wollen? Und was wollte er mit seiner Version anders machen? Diese und weitere Fragen haben wir Regisseur und Autor Armando Iannucci in unserem Interview zu David Copperfield gestellt.
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
BAFTA Awards | 2020 | Bestes Casting | Sarah Crowe | Nominierung |
Europäischer Filmpreis | 2020 | Bestes Szenenbild | Cristina Casali | Sieg |
Toronto International Film Festival 2019
Fantasy Filmfest 2020
Filmkunstmesse Leipzig 2020
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