Über Sex spricht man nicht! Was zwei – oder mehr – Leute in ihren Schlafzimmern so treiben, das bleibt nur dort, es gehört sich nicht, einem dritten davon zu erzählen. Das hat sich inzwischen natürlich geändert, zumindest in den meisten Ländern gibt es inzwischen einen etwas offeneren Umgang mit Sexualität – und damit mit allem, was dabei so schief gehen kann. Als Dr. Ruth Westheimer 1980 erstmals mit ihrer Radio-Kolumne Sexually Speaking auf Sendung ging, war das jedoch noch ganz anders. Es dauert dann auch eine Weile, bis die Leute das Angebot wirklich annahmen und ihr all die peinlichen Fragen stellten, die man in diesem Bereich so haben kann. Doch sie kamen. Und es wurden immer mehr.
Der Dokumentarfilm Fragen Sie Dr. Ruth blickt auf diese einflussreiche Sendung zurück, welche die vor allem als Dr. Ruth bekannte Sex-Therapeutin zum Star machte, erzählt aber auch sonst sehr viel aus ihrem Leben. Aufregend war und ist es. 92 Jahre ist die unter dem Namen Karola Siegel geborene Soziologin inzwischen, war in diesen Jahren in vielen Ländern zu Hause. In Deutschland, wo sie geboren wurde. In der Schweiz, in welche die Jüdin 1939 geschickt wurde, zum Schutz vor den Nazis. In Palästina und Israel, wo sie sich erst zur Scharfschützin, dann zur Kindergärtnerin ausbilden ließ. In Frankreich, wo sie Psychologie studierte. In den USA, in die sie vor mehr als 60 Jahren emigrierte, wo sie heiratete, Kinder bekam und sich niederließ.
Der lange Schatten der Kindheit
All diese Stationen klappert Regisseur Ryan White in Fragen Sie Dr. Ruth ab, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. Am meisten interessiert sich der US-amerikanische Filmemacher zum einen für die Phase, in der Dr. Ruth zu einem Phänomen wurde, Dauergast im Fernsehen war und unzählige Bücher schrieb. Der andere Schwerpunkt ist ihre Kindheit, die früh einen Bruch durch die Flucht erfuhr, vor allem durch die Trennung von ihren Eltern, die sie anschließend nie wieder sah. Der Dokumentarfilm nutzt diesen biografischen Hintergrund aber nicht, um damit Mitleid erpressen zu wollen. Vielmehr ist darin die Grundlage für die weitere Entwicklung seiner Protagonistin gelegt, die es sich zur Lebensaufgabe machte, anderen zu helfen.
Und das bedeutete eben: Sex. Die feste Überzeugung von Westheimer war es immer, dass Menschen nicht nur guten Sex haben können, sondern diesen auch verdienen. Der Film ist dann auch geprägt von dieser positiven Lebenseinstellung und einem Bedürfnis nach Harmonie. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Dr. Ruth vor Auseinandersetzungen fürchten würde. Zwar hielt sie sich in Hinblick auf die Politik mit zu konkreten Aussagen immer zurück, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. In ihren Sendungen sagte sie aber durchaus, was Sache ist, kämpfte dabei für sexuelle Erfüllung, setzte sich für AIDS-Kranke ein, für Frauenrechte, für die LGBT-Community und verweigerte auch nur den Versuch, dass es eine Norm gibt, die für Menschen zählt.
Ein Film voller Harmonie und Witz
Warum sie damit in den 80ern schnell Erfolge feierte, ist nicht wirklich schwer zu erkennen. Zu einer Zeit, in der in den USA eine ausgrenzende, restriktive Politik vorherrschte, wurde sie zu einer liberalen Gegenstimme, die den Menschen sagte: Ihr seid gut so, wie ihr seid! Aber auch in der heutigen Zeit, in der kulturelle Grabenkämpfe an der Tagesordnung sind, ist sie ein Symbol der Inklusion, der Gemeinschaft. Jemand, der andere zusammenführen will, nicht sie trennen. Das hat sie mit dem Film gemeinsam: Wie so viele Dokumentarfilme, welche bedeutende Persönlichkeiten porträtieren, neigt Fragen Sie Dr. Ruth zur Heldenverehrung. So wird zwar beispielsweise angesprochen, dass Dr. Ruth immer ein bisschen schnell bei ihren Urteilen war, was diversen Kollegen offensichtlich nicht passte. Doch der Punkt wird hastig beiseitegeschoben, für echte Kontroversen ist hier kein Platz.
Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Thesen und der Person sollte man sich hiervon daher nicht versprechen. Dafür hat die Dokumentation, die auf dem Sundance Film Festival 2019 Premiere hatte, einen hohen Unterhaltungswert. Das ist in erster Linie auf Dr. Ruth selbst zurückzuführen, die ihre mangelnde körperliche Größe schon immer mit Humor auszugleichen wusste. Kaum eine Passage in dem Film, in dem sie nicht irgendeinen lustigen Spruch zum Besten gibt. Selbst jenseits der 90 sprüht die Ikone vor Lebensfreude, nimmt die Leute mit ihrem schnodderigen Charme ein und ihrem starken deutschen Akzent, den sie nach Jahrzehnten in den USA noch nicht abgelegt hat und wohl auch nicht mehr tun wird. Aber wozu auch? Schließlich hat sie selbst immer gelehrt, dass man sich treu bleiben soll, was heute noch so viel zählt wie vor 40 Jahren, als der Anfang einer ungewöhnlichen Erfolgsgeschichte geschrieben wurde.
OT: „Ask Dr. Ruth“
Land: USA
Jahr: 2019
Regie: Ryan White
Musik: Blake Neely
Kamera: David Paul Jacobson
Sundance Film Festival 2019
Tribeca Film Festival 2019
Filmfest Hamburg 2019
Zurich Film Festival 2019
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