In ihrem Drama Nur ein Augenblick (Kinostart: 13. August 2020) befasst sich Randa Chahoud mit der Geschichte eines syrischen Flüchtlings, der auf der Suche nach seinem vermissten Bruder mitten in die Wirren des Krieges hineingezogen wird und selbst zum Kämpfer wird. Im Gespräch unterhalten wir uns mit der Regisseurin und Drehbuchautorin über die Inspirationen zum Film, die Arbeit mit Schauspielern und die Musik in Nur ein Augenblick.
Am Ende des Films sieht man einen Auszug aus einem Interview mit Michel Kilo, einem der führenden Vertreter von Menschenrechten, in seinem Heimatland Syrien. War die Geschichte, die er der Interviewerin erzählt, die Inspiration für Nur einen Augenblick?
Michel Kilo ist ein alter Schulfreund meines Vaters, beide zusammen haben Syrien verlassen. Mein Vater ist in Europa geblieben, Michel ist nach einiger Zeit wieder zurückgegangen. Er hat uns aber immer wieder besucht. Nach seinem letzten Gefängnisaufenthalt in Syrien in 2011 habe ich Michel bei meinen Eltern getroffen und er hat uns sehr frei über das, was er in Syrien erlebt und gesehen hat, berichtet. Unter anderem von einem kleinen Jungen, den er im Gefängnis kennenlernte und dessen trauriges Schicksal ich in Nur ein Augenblick eingebaut habe. Diese und andere Zeugenberichte waren eine wichtige Inspirationsquelle für den Film. Tatsächlich beruhen alle Szenen, die im Kriegsgebiet spielen auf Erzählungen, die ich mit Menschen aus Syrien oder anderen Kriegsgebieten hatte. Ein junger Libyer, hat mir beispielsweise erzählt, wie er während seines vollkommen unpolitischen Studentenlebens in Berlin plötzlich erfuhr, dass sein Bruder von Gaddafis Armee verschleppt wurde und sich Hals über Kopf in den Libyen-Krieg stürzte. Er hat das so authentisch erzählt, dass es erstaunlich nachvollziehbar war. Ich wollte ergründen, warum jemand von einem auf den nächsten Moment eine solche Entscheidung trifft. Darüber hinaus habe ich viele Treffen aufgesucht, auch in meinem Freundes- und Verwandtenkreis, in denen viel über die Erlebnisse in Deutschland und in Syrien gesprochen wurde. All diese Geschichten sind sehr wahrhaftig, das kann man sich nicht am Schreibtisch ausdenken.
Die Geschichte beginnt mit einem kurzen Moment der Hoffnung, als die Brüder zusammen ein Konzert geben, jedoch wird dieser Moment alsbald zerstört. Inwiefern ist eine Rückkehr der arabischen Welt zu einem Moment der Hoffnung, wie ihn der Arabische Frühling vielleicht darstellte, möglich?
Das ist eine schwierige Frage. Die Analyse geopolitischer Zusammenhänge ist nicht mein Gebiet, da gibt es Profis, die das besser können. Was ich in meinem Umfeld erlebt habe, war, dass der Arabische Frühling, nach Jahrzehnten der Diktatur, wie eine Tür in die Freiheit war, die sich auf einmal öffnete. Doch wenige Monate später stürzte das Land in einen Albtraum aus Gewalt und Krieg, viel schlimmer als alles zuvor.
Ein bisschen bemerkt man diesen Pessimismus ja auch in Nur ein Augenblick, wobei das Ende sehr hoffnungsvoll stimmt. Wie passt das zusammen?
Wir hatten im Film-Team sehr viele Syrer, unsere Co-Produzenten aus London waren Syrerinnen, all die Menschen die zu uns flüchten, wir haben den Film ja gewissermaßen auch für sie gemacht. Von daher war es für mich undenkbar, die Geschichte so enden zu lassen, dass überhaupt keine Hoffnung mehr besteht. Dafür ist auch meine persönliche Hoffnung zu stark, dass der Albtraum – trotz all der Aussichtslosigkeit – doch eines Tages vorbei sein wird.
Der internationale Titel des Films lautet The Accidental Rebel. Inwiefern trifft diese Beschreibung auf die Charaktere im Film zu?
Zum einen war es mir wichtig, erfahrbar zu machen, wie man – aufgrund plötzlicher von außen hereinbrechender Ereignisse – hineinschlittern kann in eine Rolle, von der man niemals dachte, man könne diese ausfüllen. Wie man sich innerhalb weniger Tage von einem unpolitischen Studenten, der in Deutschland lebt und sich mit Alltagssorgen beschäftigt, zu einem bewaffneten Krieger entwickeln kann. Einem Krieger, der schon nach wenigen Stunden ein Menschenleben auf dem Gewissen hat. Andererseits war mir auch wichtig, dass dies keine reine Verkettung äußerlicher Umstände ist, sondern auch eine große innere Entscheidung. Er hätte zurückkehren können. Karim sitzt im Auto auf dem Weg zum Flughafen, zurück nach Deutschland, niemand hält ihn auf. Alles was danach passiert, ist eine Konsequenz aus der Entscheidung, die er in dem Auto trifft. Insofern ist es ein ambivalenter Titel.
In der Szene im Auto, auf die du gerade anspieltest, gefällt mir besonders die Dramaturgie des Raumes, der die Dramatik der Situation noch einmal betont.
Die Idee war hier – wie oft in dem Film – nah bei der Hauptfigur zu sein, ein Auto ist perfekt dafür. Als Zuschauer sitzt man praktisch neben ihm auf der Rückbank.
Es gibt so viele berührende, packende Szenen im Film, beispielsweise als Karim im Gefängnis einem kleinen Kind etwas vorsingt oder wenn Achmed seine Socken sucht und dabei wütend wird. Wie arbeitest du bei solchen Szenen mit den Darstellern zusammen?
Ich hatte sehr großes Glück mit den Schauspielern. Mit jedem war die Zusammenarbeit anders. Mehdi Meskar, der Karim spielt, ist trotz, dass er sehr jung ist, ein echter Profi und ein Ausnahmetalent. Er geht sehr weit darin, sich mit seinen eigenen dunklen Seiten und Abgründen zu konfrontieren. Was manch einer an dunklen Seiten erst mit Mitte 40 in sich erkennt, das ist ihm erstaunlicherweise schon mit Anfang 20 bewusst. Wir haben viel geprobt und das Team hat uns wahnsinnig unterstützt, dass, trotz des Stresses am Set, eine Art Blase um ihn herum entstanden ist. Er wurde sehr liebevoll behandelt, so dass er sich voll auf sein Spiel konzentrieren konnte. Oft sind wir fließend vom Proben ins Drehen übergegangen und ich habe auch während der Takes viel mit ihm gesprochen. Im Falle von Marwan Moussa, der den Achmed spielt und der hauptberuflich Bodyguard ist, sah die Arbeit ganz anders aus. Die Socken-Szene war die erste Szene, die er überhaupt in den Film gespielt hat. Durch eine kurzfristige Drehplan-Umstellung musste er sie völlig unvorbereitet spielen, was einen anderen Schauspieler vermutlich ziemlich nervös gemacht hätte. Marwan blieb die Ruhe selbst, da er komplett intuitiv arbeitet. Marwan hat die Figur Achmed eh in sich getragen, auch wenn er abends durchs Hotel lief, hatte er Ahmed praktisch immer „dabei“. Erstaunlich, da er als Mensch ganz anders ist als Ahmed. Helena Pieske, die das Kind im Gefängnis spielt, ist eine sehr erfahrene Kinderdarstellerin. Sie arbeitet mit Imagination und es ist ein großes Glück, sie zu haben. Ihre Figur erlebt den Tod der eigenen Mutter, was man nur mit sehr wenigen Kindern so darstellen kann. Sie hat sich mit mir besprochen und ist über ihre Fantasie in eine imaginäre Welt gegangen. Sobald die Kamera aus war, ist sie aufgesprungen, zum Monitor gerannt und hat sich den Take angeschaut. Grundsätzlich versuche ich bei der Arbeit mit den Schauspielern herauszufinden, was jeder braucht, um wahrhaftig zu sein. Das gelingt natürlich nicht immer. Ganz wichtig ist aber immer, dass – trotz des großen Stresses am Set – Ruhe entsteht. Ich hatte mal einen Regie-Coach, dessen Tip war: „Langsam, langsam, wir haben wenig Zeit.“ Der hilft mir oft. Fünf Minuten können unglaublich viel sein, wenn man ruhig ist und konzentriert.
Das ist wirklich ein sehr schöner Satz und eine interessante Herangehensweise.
Ja! Ich lass mich gerne inspirieren. Ich hab neulich ein Interview von Ang Lee gesehen, der sagte: Er scheut sich nicht davor, sich seinem Team und seinen Schauspielern gegenüber verletzlich zu zeigen. Zuzugeben, dass er grad nicht die Lösung weiß. Er meinte, das führt einfach viel schneller ans Ziel, als den großen Chef zu spielen. Fand ich auch spannend, wenn man bedenkt, was bei Ang Lee für sensationelle Filme rauskommen.
Kannst du etwas zur Bedeutung der Musik in Nur ein Augenblick sagen?
Die Musik spielt eine sehr wichtige Rolle. Für die Hauptfigur aber auch für die Atmosphäre des Films. Der Song Watani Ana, den wir am Anfang des Filmes hören, war schon während meiner Recherche eine ganz wichtige Inspiration. Es gibt ein Handyvideo von einem spontanen Auftritt dieses Songs aus dem Jahr 2011, dessen hoffnungsvolle Stimmung im Publikum sehr ergreifend war. Ich habe in den ersten drei Minuten des Films versucht, diese Atmosphäre aus dem Handy-Video nachzuempfinden. Für die Filmmusik haben wir mit einem syrischen Musicsupervisor aus Paris zusammengearbeitet, der eben diesen Song lizenzierte und dann sehr talentierte Musiker ins Projekt holte. Wir haben aber auch mit deutschen Künstlern zusammen gearbeitet. Die Musik ist traditionell fundiert, aber auf moderne, zeitgenössische Weise interpretiert. Es gibt ja eine sehr moderne Musikszene im Raum Libanon/Syrien. Diese modern-traditionelle Mischung einzufangen, haben sich auch die deutschen und arabischen Komponisten zu Herzen genommen.
Kannst du uns was zu anderen Projekten sagen, an denen du arbeitest?
Ich bin gerade fertig mit meiner Arbeit an Deutschland ‚89, der dritten Staffel der Deutschland-Serie (UFA, Amazon). Die Creator sind Anna und Jörg Winger. Die achtteilige Serie kommt im Herbst 2020 heraus.
Als nächsten startet die Vorbereitung für eine neue UFA-Serie mit dem Titel Legal Affairs (Degeto, rbb), die voraussichtlich im November 2020 gedreht wird. Außerdem schreibe ich gerade mit dem Drehbuch-Autor Arne Ahrens an einem Sci-Fi-Projekt, in dessen Mittelpunkt eine weibliche Raumschiff-Kommandantin steht.
Vielen Dank für das nette Gespräch und viel Erfolg bei deinen weiteren Projekten.
Dankeschön.
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