Der Schock ist groß, als die ältere, verwitwete Edna (Robyn Nevin) eines Tages spurlos verschwindet. Ob sie sich in den weitläufigen Wäldern verlaufen hat, die an das abgelegene Familienhaus anschließen? Ihre Tochter Kay (Emily Mortimer) und Enkelin Sam (Bella Heathcote) sind sofort zur Stelle und beteiligen sich an den Suchaktionen. Doch auch mit vereinten Kräften finden sie keine Hinweise, was mit ihr passiert ist. Bis sie wieder da ist, so plötzlich wieder auftaucht, wie sie verschwunden ist. Wo sie in der Zwischenzeit gewesen ist und was sie getan hat, daran kann sie sich nicht erinnern, so wie ihr Gedächtnis allgemein auf erschreckende Weise Lücken aufzeigt. Während Kay und Sam noch darüber streiten, was mit der älteren Dame geschehen soll, bemerken sie, dass da noch etwas ganz anderes nicht stimmt …
Er gehört mit Sicherheit zu den beliebtesten Teilbereichen des Horrorgenres, auf jeden Fall zu den beständigsten: der Haunted House Horror. Ob nun der Klassiker Bis das Blut gefriert oder der TV-Shocker Poltergeist, der Franchise-Hit Conjuring – Die Heimsuchung oder der Fernost-Import Ju-on: The Grudge, die Filmgeschichte ist vollgestopft mit Beispielen von vermeintlichen Spukhäusern, in denen die Protagonisten und Protagonistinnen von unheimlichen Wesen verfolgt werden. Der Grund für den anhaltenden Erfolg ist klar. Meist handelt es sich bei diesen verwunschenen Schauplätzen um ein Familienhaus, ein Ort also, an den man sich zurückzieht und Schutz findet vor den Bedrohungen der äußeren Welt. Fällt das aber weg und wird deine Zufluchtsstätte selbst zu einer Gefahr – wohin willst du dann noch gehen?
Das Drama des Horrors
Der Nachteil dieses Erfolgsrezeptes: Es wurde so oft kopiert, dass man sich schon ein bisschen was einfallen lassen muss, um damit tatsächlich noch Wirkung zu zeigen. Knarrende Fußböden, sich bewegende Schatten im Hintergrund oder Gegenstände, die ein Eigenleben entwickeln, das hat man eben alles schon gesehen, viele, viele Male. Und wie das nun mal bei Wiederholungen so ist, sie verlieren mit der Zeit an Kraft. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von Filmemachern, die sich den Abnützungserscheinungen stellten, indem sie für die Geschichten einen stärker menschlichen Zugang suchten. Filme wie Der Babadook und Hereditary – Das Vermächtnis oder auch die Serie Spuk in Hill House waren gleichzeitig Horror und Familiendramen, erzählten von gestörten Beziehungen und realen Wunden, die sich in einem übersinnlichen Schrecken spiegelten.
In eine ganz ähnliche Richtung geht nun auch Natalie Erika James mit ihrem Spielfilmdebüt Relic. Die Regisseurin und Co-Autorin stellt in den Mittelpunkt ihres Films eine Familie, in der schon seit Längerem nichts mehr so wirklich zu funktionieren scheint. Einiges davon wird offen thematisiert, etwa Kays Schuldgefühle, seit Wochen nicht mehr mit ihrer Mutter gesprochen zu haben. Anderes äußerst sich nur nonverbal, durch Blicke, durch die Körperhaltung. Drei Frauen aus drei Generationen, die alle miteinander verbunden sind und doch nur mühsam einen Zugang finden. Erschwert wird das Verhältnis, in dem vieles nicht offen angesprochen wird, durch den zunehmenden geistigen Verfall von Edna. Sie wirkt immer wieder verwirrt, in ihrem eigenen Zuhause verloren, kann sich nicht erinnern, was sie getan oder gesagt hat.
Ein Labyrinth des Geistes
Das Thema der Demenz mit Haunted House Horror zu verbinden, stellt sich dabei als äußerst effektiv heraus. Natürlich ist das Genre voll von alten Menschen, die alle für verrückt halten, die aber als einzige wissen, was wirklich gespielt wird. Relic, das auf dem Sundance Film Festival 2020 Premiere hatte, folgt da also einer langen Tradition. Ungewöhnlich ist aber, dass diese Person nicht irgendwo am Rand abgeladen wird, sondern im Mittelpunkt steht. Wenn Edna erzählt, dass etwas nicht stimmt, das Haus sich verwandelt, weiß man als Zuschauer nicht: Was davon ist real, was Ausdruck einer Erkrankung? Diese Unsicherheit darüber, ob der eigenen Wahrnehmung getraut werden kann, ist ein Grundpfeiler von Horror. Selten aber wurde dies so plausibel umgesetzt – und so schmerzhaft. Der größte Schrecken an dem Film ist der, einen geliebten Menschen vor deinen eigenen Augen verfallen zu sehen. Zeuge zu sein, wie er sich selbst und anderen zunehmend fremd wird.
Wie stark Relic auf einen wirkt, hängt dann auch maßgeblich damit zusammen, inwieweit man sich in diese Familienkonstellation hineinfühlen kann. Wem das nicht gelingt, dem droht trotz einer recht kurzen Laufzeit von nur rund anderthalb Stunden Langeweile. James lässt sich sehr viel Zeit mit dem Einstieg, zeigt dem Publikum zwar ein Haus, in dem man sich sehr schön unwohl fühlen kann, hält sich mit Ereignissen aber zurück. Erst zum Ende hin zieht sie die Daumenschrauben an, das dafür dann aber auf eine Weise, die man nicht wieder vergisst. Kunstvoll verbindet sie hier Elemente, die sie zuvor sorgfältig vorbereitet hat, lässt reine Panik und tiefe Trauer in einem Finale zusammenfinden, das zu den schönsten und symbolträchtigsten zählt, die man in dem Bereich sehen kann. Aber auch zu den kontroversesten: Wie wenige Vertreter dieses Genres lädt Relic dazu ein, fordert es sogar geradezu, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, welche die Filmemacherin anspricht. Der eigentliche Schrecken ist dann eben doch nicht das Haus, sondern das, was darin vergraben werden sollte.
OT: „Relic“
Land: USA, Australien
Jahr: 2020
Regie: Natalie Erika James
Drehbuch: Natalie Erika James, Christian White
Musik: Brian Reitzell
Kamera: Charlie Sarroff
Besetzung: Emily Mortimer, Robyn Nevin, Bella Heathcote
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